Swetlana Tichanowskaja:Ikone wider Willen

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Die Oppositionelle Swetlana Tichanowskaja hofft, eines Tages nach Belarus heimkehren zu können, wie sie bei einer Pressekonferenz in Litauen sagt. (Foto: Mindaugas Kulbis/AP)

Die Menschen stünden vor der Wahl "zwischen der Liebe zu unserem Land und dem Gehorsam zum System": Oppositionskandidatin Tichanowskaja gibt sich kämpferisch.

Von Silke Bigalke, Moskau, und Kai Strittmatter, Vilnius, Vilnius/Moskau

Der Auftritt in Litauens Hauptstadt Vilnius war ein kurzer, aber ein mit Spannung erwarteter: Zum ersten Mal nach ihrer Flucht aus der Heimat vor zwölf Tagen stellte sich die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja der Öffentlichkeit. Das Volk, prophezeite Tichanowskaja in einer Pressekonferenz in einem großen Hotel, werde Präsident Alexander Lukaschenkos Führung "niemals wieder akzeptieren". Die Menschen könnten Lukaschenko "die Gewalt nicht vergeben", die sein Regime gegen friedliche Demonstranten ausgeübt habe.

Sicherheitspersonal der litauischen Polizei war schon Stunden vor Tichanowskajas Ankunft vor dem Hoteleingang postiert. Schließlich sollte hier die Frau sprechen, die viele für die wahre Siegerin der belarussischen Wahlen vor knapp zwei Wochen halten, sie selbst eingeschlossen. Keine zwei Tage nach der manipulierten Abstimmung war sie nach Vilnius geflüchtete. Dort drängelten sich im Konferenzsaal Reporter aus aller Welt, ein lautstark schimpfender Lukaschenko-Anhänger wurde am Ende der Pressekonferenz aus dem Saal geleitet.

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Kaum jemand weiß, wie groß die belarussischen Sicherheitsorgane wirklich sind. Für den Dauerpräsidenten aber sind sie enorm wichtig: Sein Schicksal hängt davon ab, ob es ihm gelingt, die Angst wieder zu wecken.

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Swetlana Tichanowskaja ist Menschenmassen aus dem Wahlkampf in Belarus gewöhnt. Schon damals konnte sie Zehntausende mobilisieren, obwohl sie immer wieder betont hat, dass es so nie geplant gewesen sei. "Ich wollte nie Politikerin werden", beginnt sie auch diesen Auftritt. Das Schicksal hätte ihr diese Rolle gegeben. Ein jeder Mensch in Belarus stehe nun vor der "Wahl zwischen Freiheit und Angst, zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen der Liebe zu unserem Land und dem Gehorsam zum System".

Sie selbst hat sich bereit erklärt, in der Übergangsphase die politische Führung zu übernehmen. Aber wie, wenn sie nicht im Land ist? "Ich möchte zurückgehen", sagte die 37-Jährige nun in Vilnius, aber erst, "wenn ich mich dort sicher fühle". Auf andere Fragen antwortete sie ausweichend, über Details ihrer Flucht, über mögliche Drohungen gegen sie oder ihre Familie wollte sie nicht sprechen. "Jede Person in unserem Land fühlt Angst", sagte sie. "Aber es ist unsere Aufgabe, diese Angst zu überwinden." Als ihre unmittelbare Ziele nannte sie ein Ende der Gewalt, die Freilassung der politischen Häftlinge. Vor allem aber müsse es Neuwahlen geben: "frei, ehrlich und transparent". Doch auch die Frage, ob sie bei solchen Neuwahlen erneut antreten würde, ließ sie offen. Vor einigen Tagen hat Tichanowskaja einen Koordinierungsrat gegründet, der das Land zu demokratischen Wahlen führen soll. Bis zu 70 Prominente und Experten sollen teilnehmen, offenbar gab es noch weit mehr Bewerbungen. Es sei unmöglich, alle aufzunehmen, sagte Tichanowkajas Anwalt Maxim Znak, der zum Rat gehört. Dieser traf sich zunächst ohne seine politische Anführerin in Minsk. Und während Tichanowskaja am Freitag in Vilnius ihre Pressekonferenz gab, musste Anwalt Znak vor dem belarussischen Untersuchungsausschuss aussagen. Machthaber Alexander Lukaschenko hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass er den Rat als "Versuch der Machtübernahme" betrachte. Nun wird gegen das Gremium ermittelt. Wer verurteilt wird, dem drohen bis zu fünf Jahre Haft. Der Rat "untergrabe die nationale Sicherheit von Belarus", sagte Generalstaatsanwalt Alexander Konjuk, er sei verfassungswidrig.

Swetlana Tichanowskaja hat den Druck am eigenen Leib gespürt

Tichanowskaja weiß, dass der Druck auf ihre Anhänger in Belarus nach fast zwei Protestwochen weiter steigt. Vor allem der Streik der Arbeiter bringt Lukaschenko in Bedrängnis, er war Anfang der Woche beim Besuch eines Fahrzeugherstellers sogar ausgebuht worden. Nun bedrängen Betriebsleiter die Streikenden, an manchen Orten drohte die Polizei vor den Fabriken mit Festnahmen. Am Freitag appellierte Tichanowskaja in einer Videobotschaft an die Arbeiter, die Streiks "fortzuführen und auszuweiten" und sich nicht einschüchtern zu lassen. Streiks seien eine "absolut legale und mächtige Waffe" gegen das Regime. Sie hätten die "Diktatur eingeschüchtert", und deswegen spürten die Arbeiter nun diesen enormen Druck.

Auch wenn sie nicht darüber sprechen möchte, kennt sie diesen Druck genau. Ihr Ehemann, der 42-jährige regierungskritische Videoblogger Sergej Tichanowskij, sitzt seit Mai in Haft. Nach einem anonymen Drohanruf brachte Swetlana Tichanowskaja ihre beiden Kinder, vier und zehn Jahre alt, zur Sicherheit ins Ausland. Nach ihrer eigenen Flucht tauchte ein Video von ihr auf, zu dem sie offenbar gedrängt worden war. Darin rief sie die Belarussen auf, nicht mehr auf die Straße zu gehen. Mehrere Mitarbeiter von ihr sitzen weiterhin in Haft. In Belarus führt unter anderem ihre Mitstreiterin Maria Kolesnikowa die Demokratiekampagne für sie weiter. Kolesnikowa hatte zuvor den Wahlkampf von Wiktor Babariko geleitet, der ebenfalls als verhinderter Kandidat im Gefängnis sitzt. Der Stab des früheren Bankmanagers Babariko stellte sich auch deswegen hinter Tichanowskaja, weil sie als einzige unabhängige Kandidatin antreten durfte. Wie eng der Kontakt zwischen den Teams in Minsk und Vilnius nun ist, ist unklar. "Ich bin voller Respekt und Dankbarkeit für alles, was sie in den letzten drei Monaten getan hat", sagte Kolesnikowa über die geflüchtete Kandidatin. "Sie ist eine Heldin für uns." Tichanowskaja sei "gewachsen an ihrer Aufgabe", sagte nach der Pressekonferenz Jakob Wöllenstein, der Leiter des Auslandsbüros Belarus der Konrad Adenauer Stiftung. "Sie hat auch nie gesagt, dass sie selbst Präsidentin werden möchte. Es geht ihr vor allem erst einmal um die Frage: Gibt es Neuwahlen? Ohne jede andere versteckte Agenda. Das wirkt vertrauenswürdig auf die Menschen." Wie es weiter geht, hängt auch davon ab, welche Unterstützung Lukaschenko aus Moskau erhält. Am Freitag soll ihn Russlands Präsident Wladimir Putin aufgefordert haben, die politische Krise im Dialog mit dem belarussischen Volk zu lösen, berichtet die russische Agentur Tass. Auf die Frage nach möglicher russischer Einflussnahme sagte Tichanowskaja in Vilnius lediglich, sie rufe "alle Länder auf, die Souveränität der Republik Belarus zu akzeptieren". Und als ein Journalist sie fragte, welche EU-Sanktionen sie für effektiv hielte, war ihre Antwort dieselbe. Mit dem Zusatz, dass sie allen Ländern danke, die Belarus unterstützten.

© SZ vom 22.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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