Judenfeindlichkeit:Antisemitismus, der Deutschland kaltlässt

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Auch auf einer propalästinensischen Demonstration in Berlin im Mai waren radikale antiisraelische Parolen zu hören. (Foto: Sean Gallup/Getty)

Als im Mai der Gazakrieg tobte, flogen Steine auf Synagogen, skandierten Demonstranten "Scheiß Juden". In vielen Städten wurden Täter nicht dingfest gemacht.

Von Ronen Steinke, Berlin

Am 12. Mai fand im Fußballstadion auf Schalke ein sogenanntes Geisterspiel statt, Hertha BSC gegen den heimischen FC Schalke, es ging 2:1 aus für die Gäste aus Berlin. Fans waren keine im Stadion, der Pandemie wegen, die Sportler spielten vor leeren Rängen. Aber gut zwei Dutzend Polizisten waren dort, sogar mit Helmen und Schutzausrüstung. Sicher ist sicher.

An einem anderen Ort, nur wenige Kilometer südlich, war zu dieser Zeit so gut wie keine Polizei zugegen: vor der Gelsenkirchener Synagoge. Videoaufnahmen von diesem Abend gingen um die Welt. Man sah eine große Gruppe junger Männer, die Türkei- und Palästinaflaggen schwenkten. Die Menge baute sich vor der Synagoge auf und skandierte: "Scheiß Juden, scheiß Juden ..."

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Vier Minuten lang ging das so, von 17.58 Uhr bis 18.02 Uhr, auch "Scheiß dreckige Juden" wurde gerufen und "Freiheit für Palästina". In Israel tobte zu dieser Zeit der Gazakrieg, Bilder von zivilen Opfern liefen in den Nachrichten. Für Juden hierzulande bedeutete das eine Welle von Aggressionen, Beschimpfungen, Attacken - so als könnten sie in Gelsenkirchen, Berlin, Augsburg oder sonst wo in Deutschland etwas dafür.

Niemand stoppte den Mob in Gelsenkirchen. Die Polizei hatte erst wenige Minuten zuvor überhaupt Einsatzkräfte vom Fußballstadion abbeordert und zur Synagoge geschickt. Als sie dort ankamen, waren etwa 100 Demonstranten schon da. Die Beamten befanden sich stark in der Unterzahl. Sie bildeten lediglich eine dünne Menschenkette vor der Synagoge, um das Schlimmste zu verhindern: ein Eindringen von Angreifern in das Gotteshaus.

Niemand musste seinen Ausweis zeigen, niemand wurde festgenommen

Danach ließen sie die Menge ungehindert weiterziehen. Niemand von denen, die Hetzerisches gebrüllt hatten, wurde festgenommen, niemand um seine Personalien gebeten. Am Tag danach wurde der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul (CDU) in einem Fernsehinterview gefragt, ob seine Beamten vielleicht zum Ohrenarzt müssten.

Es ist ein schwieriges Jahr gewesen für viele jüdische Gemeinden, in Nordrhein-Westfalen und ganz Deutschland. Sechs antisemitische Straftaten am Tag wurden im Durchschnitt bundesweit registriert. Beobachter wie die "Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus", eine Opferberatungsstelle mit Hauptsitz in Berlin, gehen davon aus, dass 2021 ein neuer Höchststand erreicht werden könnte.

Die Szenen aus Gelsenkirchen wirkten da wie ein Paradebeispiel für eine angebliche Passivität des Staats gegenüber dem wieder erstarkenden Judenhass. In den Tagen danach wurde der Rücktritt der Polizeipräsidentin gefordert. Seither hat in der Stadt eine akribische Aufarbeitung der Vorgänge stattgefunden. Die Polizei bildete eine Ermittlungsgruppe, es wurden Nachtschichten geschoben, Videos ausgewertet. Alles, um die Hetzer doch noch dingfest zu machen.

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Mit dem Ergebnis, dass man heute, ein halbes Jahr später, ziemlich genau rekonstruieren kann, wer da gebrüllt hat - und was die Polizei hätte anders machen müssen. Mithilfe vieler Zeugenbefragungen identifizierten die Ermittler 16 Verdächtige. Drei Frauen sind unter ihnen sowie ein elfjähriges Kind, das noch nicht strafmündig ist und deshalb rasch wieder aus der Ermittlung herausgenommen wurde. Sechs Verdächtige haben die deutsche, vier die syrische, zwei die libanesische, einer die jordanische Staatsangehörigkeit.

Die Gelsenkirchener Ermittler gingen streng vor

Und klar ist inzwischen auch: Die Aggression kam nicht überraschend. Schon am Abend zuvor war im Netz eine Demo "für Palästina" angekündigt worden. Sie sollte sich um 17 Uhr am Gelsenkirchener Hauptbahnhof treffen. Die jüdische Gemeinde, die nicht weit entfernt liegt, hatte daraus schnell ihre Schlüsse gezogen. "Ich habe zu den Mitarbeitern in der Synagoge gesagt, wir gehen heute mal früher nach Hause", sagt die Gemeindevorsitzende Judith Neuwald-Tasbach. Schon um 16 Uhr war das.

Aber die Polizei war an jenem Tag dünn besetzt, und ihr Fokus lag eher auf dem Fußballspiel in der Schalke-Arena, wie die 36-seitige, interne Einsatzanalyse der Gelsenkirchener Polizei zeigt. Als die Palästina-Demo loslief, sei sie auch nur ein kleines Grüppchen gewesen, mit unklarem Ziel. Erst als sich der Aufzug durch ein mehrheitlich migrantisch geprägtes Viertel bewegte, sei die Demo angeschwollen. Es sei erschreckend, "wie wenig Tabus, wie wenig Hemmungen viele Demonstranten hatten, als es darum ging, pauschal Juden zu beschimpfen", sagt Gelsenkirchens Polizeipräsidentin Britta Zur heute.

Die Staatsanwaltschaft ist dann im Nachhinein recht strikt vorgegangen. Sie hat den Ausruf "Scheiß Juden" als Volksverhetzung gewertet und vor Gericht gebracht. In anderen Bundesländern hat es das nur sehr vereinzelt gegeben. Während jener Tage im Mai wurden deutschlandweit verschiedene bedrohliche oder gewaltverherrlichende Parolen skandiert. Konsequenzen hatte dies jedoch nur selten, wie eine Umfrage der Süddeutschen Zeitung unter einer Reihe von Staatsanwaltschaften zeigt.

In Augsburg hatten Palästina-Demonstranten angekündigt, ein arabisches Propagandalied spielen zu wollen: "Bombardiert Tel Aviv". Daraufhin machte die örtliche Staatsanwaltschaft vorab klar, dass man dies als eine Aufforderung zu Straftaten werten und ahnden würde. Mit dem Erfolg, dass die Demonstranten davon Abstand nahmen. In anderen Städten dagegen erklang der Song ungestört, etwa in Berlin-Neukölln aus den Boxen eines Cafés, vor dem sich Demonstranten versammelten.

Skandiert wurde in Berlin, Bremen, Halle, Nürnberg, Hamburg, Mannheim, Münster

Auch ein weiterer arabischer Schlachtruf wurde von den Behörden toleriert: "Khaybar, Khaybar, ya yahud, Falestin raah Tauod!" Es bedeutet: "Juden, erinnert euch an Khaybar, Palästina kommt zurück". Khaybar war der islamischen Überlieferung nach eine von Juden besiedelte Oase auf dem Gebiet des heutigen Saudi-Arabiens, die im Jahr 628 von Mohammed und seiner Armee erobert wurde. Viele Bewohner wurden massakriert, viele Frauen und Kinder versklavt.

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Der Schlachtruf ist eine unverhohlene Drohung. Er wurde im Mai in vielen deutschen Städten dokumentiert. In Bremen, Halle und Nürnberg, in Hamburg, Mannheim und Münster - und am 14. und 15. Mai jeweils in Berlin. Die Staatsanwaltschaft in der Hauptstadt hat bis heute keine Ermittlungen eingeleitet.

So steht Gelsenkirchen, die wegen ihrer abwartenden, zurückhaltenden Polizei zunächst so sehr gescholtene Stadt, ein halbes Jahr nach den Palästina-Demonstrationen bemerkenswerterweise ganz anders da. Als die Stadt, in der inzwischen die meisten Anklagen wegen antisemitischer Propagandadelikte auf den Weg gebracht worden sind.

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