Anschlag in Halle:Schock, dann Trauer

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Die Hallenser versammeln sich zu spontanem Gedenken, im nahe gelegenen Leipzig geht es plötzlich nicht mehr nur um die Feier der friedlichen Revolution: Eindrücke aus den 24 Stunden seit der Tat.

Reportage von Sophie Aschenbrenner und Cornelius Pollmer, Halle (Saale)/Leipzig, Halle an der Saale

An diesem Donnerstag stehen Polizeiwagen vor den Toren der Synagoge in Halle an der Saale. Am Mittwoch, als ein 27-Jähriger schwer bewaffnet versuchte, am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur in das Gebetshaus einzudringen, war sie unbewacht. Der Mann tötete eine Frau auf der Straße und einen Mann in einem Döner-Imbiss. Die Studentenstadt in Sachsen-Anhalt befindet sich am Morgen danach in einer Art Ausnahmezustand. In der Innenstadt haben die Bürger einen spontanen Ort des Gedenkens eingerichtet. Blumen und Kerzen erinnern an die zwei Getöteten. Auf einem Pappschild steht: "Kein Platz für Antisemiten". Immer wieder weht das Schild um, immer wieder stellt es jemand auf.

Manche Menschen machen nur kurz ein Bild. Andere bleiben länger. Eine ältere Dame holt eine Kerze aus ihrer Tasche, zündet sie an, stellt sie ab. Geht dann schnell weiter, sie müsse auf die Arbeit, sagt sie. Zwei Frauen weinen und umarmen einander. Auch Mutlu U. hat eine Kerze mitgebracht. Der 23-Jährige kommt ursprünglich aus Berlin, lebt seit einigen Jahren in Halle, nur wenige Meter vom Marktplatz entfernt. Er ist schon zu spät dran für die Arbeit, doch heute ist ihm das egal. Er sei "schockiert von dem, was passiert ist", sagt er. Und vor allem enttäuscht von der Politik und der seiner Meinung nach eher geringen Anteilnahme der Bürger. "Der Platz hier müsste doch jetzt voller Menschen sein", sagt er. "Es hätte längst heute früh eine offizielle Schweigeminute geben müssen. Das ist doch das Mindeste."

Nach Anschlag
:Halle trauert

Nach dem Anschlag mit zwei Toten versammeln sich am Abend Hunderte Menschen, um gemeinsam zu trauern. Bilder aus einer getroffenen Stadt.

Halle am Vorabend: Auch jetzt schon ist Mutlu U. abends da, wenige Stunden nach dem Anschlag, als sich etwa 500 Menschen zu einem spontanen Gedenken vor der Kirche auf dem Markt einfinden. Es gibt keine Reden, nur stilles Gedenken. Das Treffen organisiert hat das antifaschistische Bündnis "Halle gegen rechts". Sprecher Valentin Hacken sagt: "Wir haben wegen der Sicherheitslage lange gezögert, ob wir direkt am Abend noch eine Mahnwache organisieren sollen."

"Frieden unserer Stadt, Frieden unserem Land, das ist der Wunsch an diesem Abend. Schalom!"

Hacken hat am Mittwoch von einem Bekannten von dem Angriff erfahren, er selbst wohnt im Paulusviertel nur wenige Meter von der Synagoge entfernt. Die Reaktionen der Politik enttäuschen ihn, sagt er: "Es kann doch niemand geglaubt haben, dass so etwas nicht passieren kann." Rechte Straftaten würden seiner Meinung nach viel zu lasch verfolgt. Auch das sei Teil des Problems: "Die Täter fühlen sich sicher."

Während Halle unter Schock steht, sind in Leipzig, eine knappe Autostunde entfernt, viele Menschen zu Gedenkfeiern unterwegs. Leipzig möchte heute Frieden und Freiheit feiern und den Mut der Demonstranten vor 30 Jahren. Doch eine Ahnung des gegenwärtigen Unheils ist bereits in die Stadt gekrochen. Der gesperrte Bahnhof in Halle hat die sonst stattliche Warteschlange der Taxis im Zentrum aufgelöst, weil Reisende sich neue Wege suchen.

Und auch vor dem Gebäude des ehemaligen Karstadt, das gerade für ein zeitpolitisches Festival zwischengenutzt wird, macht das Weltgeschehen keinen Halt. Passanten sind hier aufgefordert, auf rote Zettel ihre Ängste zu schreiben und diese an den Schaufenstern anzubringen. Die Zettel erzählen von "Klimawandel", von "Hongkong" und "Gleichgültigkeit", aber auch von "Naziterror". Eine Frau schreibt am Abend "fehlende Menschlichkeit!" auf einen weiteren Zettel, bringt diesen an und geht in Richtung Nikolaikirche.

Vor dieser stehen, im Halbrund, Menschen vor einer Leinwand und sehen die Übertragung eines Gedenkgottesdienstes. In die Fürbitten in der Kirche wandern die Worte "Halle" und "Jüdische Gemeinde". Noch deutlicher legt sich der Tag über die Erinnerung keine Stunde später zum Auftakt des Lichtfests am Augustusplatz. Den Ton setzt dort Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung. In seiner Ansprache finden sich noch einige Konjunktive, verbale Notwendigkeiten in unübersichtlichen Nachrichtenlagen. In seiner Ansprache findet sich aber auch Entschlossenheit und das gleich zu Beginn, als Jung nach dem "Hallo Leipzig!" fortfährt: "Frieden unserer Stadt, Frieden unserem Land, das ist der Wunsch an diesem Abend. Schalom!" Jung bittet um eine Minute des Schweigens und tatsächlich erstirbt jedes Geräusch auf diesem vollen Platz. Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier findet zu wichtigen und richtigen Worten. "Fröhlichkeit will sich heute nicht so recht einstellen", sagt Steinmeier und wenig später schließt er mit der Bitte, es möge ein Abend "des Erinnerns, des Stolzes und vielleicht der etwas stilleren Freude" werden.

In Halle wird die Angst über Nacht abschwellen, nur weiß das um 22 Uhr noch keiner. Wer es ins Paulusviertel schafft und dort in die Schillerstraße, steht vor müde flatterndem Absperrband. Von Weitem immerhin ist der "Kiez-Döner", der Imbiss, in dem der Täter sein zweites Opfer erschoss, zu sehen, "Spätkauf" steht in seinem Fenster und lesen lässt sich das nur, weil drinnen noch Licht brennt. Geöffnet aber ist der Spätkauf nur für Polizisten und die Spurensicherung.

Ein Spaziergang durchs Sperrgebiet. Ein paar Menschen schleichen durch die Straßen, einige haben ihren Hund dabei und daran eine Leine zum Festhalten, in jeglicher Hinsicht. Selbst wenn die Spaziergänger zu zweit sind, reden sie nur leise miteinander, es liegt eine betrübliche Ruhe über dem Kiez, eine Ruhe, die den stummen Nachhall eines schrecklichen Geschehens in sich trägt. Hinter Fenstern von Mehrfamilienhäusern aus der Gründerzeit sind Fernseher zu sehen, auf denen Nachrichten laufen. Die Nachrichten, das heißt für die Hallenser heute auch bei ARD und ZDF: Lokalnachrichten über den Anschlag. Es ist ein Abend, an dem sonst hinter all diesen Fenstern das satt leuchtende Grün der Liveübertragung eines Fußball-Länderspiels auf den Fernsehern zu sehen gewesen wäre.

Am Vormittag versammeln sich etwa 200 Menschen zu einer spontanen Mahnwache

Am Morgen danach bauen auf dem Marktplatz, wenige Meter vom Gedenkort in der Innenstadt entfernt, Händler ihre Stände auf. Anita W. räumt Gemüsekisten aus, wie jeden Morgen, eigentlich. Nur dass Blumen und Lichter an die Tat vom Vortag erinnern, dass die Menschen ein bisschen langsamer wirken, nachdenklich, wie die Händlerin sagt. Die gebürtige Hallenserin nennt es "bedrückend", was am Vortag in ihrer Stadt passiert ist. Unsicherer fühle sich sich jetzt aber nicht. Sie sehe das eher pragmatisch: "Es kann einem überall was passieren."

Von Polizei ist auf dem Markt nichts zu sehen, insgesamt ist es noch leer. Die Tram fährt, die Sonne bahnt sich langsam ihren Weg durch die Wolken. Die Geschäfte in der Innenstadt sind um kurz nach acht noch geschlossen, an einer Scheibe ein Zettel: "Wir haben wegen der aktuellen Lage geschlossen."

Am Vormittag versammeln sich etwa 200 Menschen zu einer spontanen Mahnwache. Vor allem junge Menschen sind da, legen Blume und Kränze nieder. "Präsenz zeigen" ist ein Stichwort, das immer wieder fällt, aber auch die zwei Wörter "rechter Terror". Lea S. und Tuan D. sind froh, dass so viele gekommen sind. "Es ist wichtig zu zeigen, dass wir keine Angst haben", sagt D., der in Halle Jura studiert. "Wir wollen zeigen: Halle ist nicht rechtsradikal", ergänzt S. Die Geografiestudentin wohnt 100 Meter von der Synagoge entfernt. Am Tag davor war Tuan D. bei ihr zu Besuch. "Ich bin zehn Minuten vor dem Vorfall noch da vorbeigelaufen", erzählt er.

Ein paar Hundert Meter weiter die Straße entlang steht vor dem "Kiez-Döner" ein Polizeiwagen. Der Laden ist abgesperrt, an einem Baum stehen Teelichter als stummes Andenken. Der Hallenser SPD-Bundestagsabgeordnete Karamba Diaby legt Blumen nieder, andere tun es ihm nach.

Als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vorfahren soll, ist die Straße vor der Synagoge weiträumig abgesperrt. Durch dürfen nur Pressevertreter und Anwohner - diejenigen, die für die Mahnwache gekommen sind, müssen draußen warten. Steinmeier wird deutlich: "Einen solchen feigen Anschlag zu verurteilen, das reicht nicht", sagt er. "Es muss klar sein, dass der Staat Verantwortung übernimmt für jüdisches Leben, für die Sicherheit jüdischen Lebens in Deutschland." Nach seiner Rede geht der Bundespräsident noch weiter zu dem Imbiss. Er legt Blumen an die Stelle, an der die Trauer der Bürger von Halle besonders deutlich ist.

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