Der Zwergstaat Andorra in den Pyrenäen ist bisher nicht als Schauplatz gewalttätiger Ausschreitungen bekannt geworden. In dem kleinen Fürstentum, das über Jahrzehnte einen Ruf als Steueroase genoss, führen knapp 80 000 Einwohner ein eher beschauliches Leben.
Knapp 240 Polizistinnen und Polizisten reichen aus, um für Ordnung zu sorgen. Nur - wofür brauchen sie Zigtausend Kartuschen Pfefferspray aus deutscher Produktion? Und wieso wird Andorras Hunger nach solchen Reizmitteln für Polizeieinsätze jedes Jahr größer?
Diese Frage stellt sich neuerdings Michel Brandt. Der Abgeordnete der Linkspartei im Bundestag war einigermaßen verblüfft, als das Bundesinnenministerium ihm kürzlich eine Kleine Anfrage beantwortete.
Brandt, der im Menschenrechtsausschuss des Parlaments sitzt, hatte sich bei der Bundesregierung nach dem Einsatz von Pfefferspray und Elektroschockpistolen durch die Bundespolizei erkundigt. Brandt hält die Anwendung solcher Gerätschaften bei Demonstrationen und gegen unbewaffnete Einzelpersonen für gesundheitsgefährdend und "menschenrechtswidrig".
In einer Antwort, die der Süddeutschen Zeitung vorliegt, schrieb das Bundesinnenministerium, Pfefferspray sei ein Mittel "unmittelbaren Zwangs", um Polizeimaßnahmen gegen Widerstand durchzusetzen. Polizeikräfte seien dabei "an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden".
Selbst wenn "bei einem kleinen Prozentsatz der Fälle eine gravierendere Gesundheitsbeeinträchtigung nicht ausgeschlossen werden" könne, seien Reizstoffsprühgeräte ein milderes Mittel als Schlagstöcke oder Schusswaffen. Weiter hieß es, die Bundespolizei verwende keine Elektroschockpistolen. Sie werde aber demnächst mit der Erprobung sogenannter Taser zur Abwehr von Gewalttätern beginnen: am Berliner Ostbahnhof, in Kaiserslautern und am Hauptbahnhof in Frankfurt am Main.
Auch Rest der Liste wirft die Frage nach Kontrollmaßnahmen auf
Was folgte, war eine acht Seiten lange Liste, mit der das Ministerium auf die Frage des Abgeordneten einging, an welche Länder Deutschland polizeiliche Reizmittel wie Pfefferspray, Kartuschen mit CS-Gas oder entsprechende Aufhängungsvorrichtungen geliefert habe. Auf Platz eins der Empfängerstaaten: der Zwergstaat Andorra.
Im Jahr 2017 bezog das Fürstentum nach Auskunft des Bundesinnenministeriums 29 607 Einmalkartuschen für Pfefferspray mitsamt nachladbarer Aufhängevorrichtung, die Polizeikräfte gewöhnlich am Gürtel tragen. Im Jahr darauf steigerte Andorra seine Bestellung auf 36 533 Sets Pfefferspraykartuschen. 2019 verdoppelte sich die Zahl noch einmal, auf 68 592 Stück.
"Bei 240 Polizeikräften in ganz Andorra haben die knapp 70 000 Kartuschen bestellt", sagt der Linkenabgeordnete Brandt. "Da frage ich mich: Geht das an Länder für die ein Einfuhrverbot gilt?" Die Vermutung liege nahe, dass die gesundheitsgefährdenden Reizmittel weiterverkauft würden, "im schlimmsten Fall an Länder, an die Deutschland nicht liefern darf." Dies sei dringend aufzuklären.
Aber auch der Rest der Liste wirft Frage nach Kontrollmaßnahmen auf. Nach China, wo Menschenrechtsbruch an der Tagesordnung ist, lieferten deutsche Unternehmen 2018 unter anderem 50 Kilo Reizgasmischung. Im Folgejahr waren es bereits 100 Kilo. Auch Chile, wo die Polizei 2019 mit großer Härte gegen Demonstranten vorging, erhielt aus Deutschland immer wieder Pfeffersprayausrüstungen.
125 Kilo des Reizmittels Oleoresin Capsicum gingen 2017 an die Ukraine, 2019 noch einmal 107 Kilogramm. Vier Wasserwerfer bekamen die Vereinigten Arabischen Emirate, weitere Reizmittel Tunesien, Somalia, Russland, Ägypten, Singapur, Katar - die Liste problematischer Empfängerländer ist lang.
"In Deutschland redet man gern über Menschenrechte und legitime Proteste gegen undemokratische Regierungen", sagt der Abgeordnete Brandt. "Aber dann liefern wir Mittel, die genau solche Proteste unterdrücken."
Im Bundesinnenministerium wollte man sich am Donnerstag nicht zu den Lieferungen äußern. Das Haus sei für die Bundespolizei zuständig und habe die Anfrage deshalb beantwortet. Zuständig für Rüstungsexporte und verwandte Themen sei eigentlich das Bundeswirtschaftsministerium. Auch dort war zunächst keine Antwort zu erhalten.