Politikverdrossenheit:Eine Behandlung der Symptome, nicht der Ursache

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Zu wenig Interesse am Politikbetrieb: Menschen vor dem Reichstagsgebäude in Berlin (Foto: dpa)

Bundeswirtschaftsminister Altmaier will eine grundlegende Reform des politischen Systems. Doch seine vorgeschlagenen Maßnahmen gehen nicht die Ursache des Problems an: die Entfremdung zwischen Bürgern und Politikern.

Kommentar von Detlef Esslinger

Vor knapp zwei Wochen waren in Hannover und Mainz die Wahlen zum Oberbürgermeister; der erste Wahlgang. Die Beteiligung lag bei etwa 45 Prozent. Ebenfalls zu dieser Zeit fand der Mitgliederentscheid der SPD um den Vorsitz statt, ebenfalls die erste Runde. Nur 53 Prozent der Mitglieder machten mit. Nun stehen in Hannover, Mainz und der SPD Stichwahlen an. Niedrige Beteiligungen bei OB-Wahlen überraschen niemanden mehr. Aber warum tritt jemand in eine Partei ein, zahlt Beiträge - und dann kümmert ihn nicht einmal die Frage, wer diese Partei führt? Stimmabgabe auf der Couch, mittels Smartphone, wäre möglich gewesen. Doch 200 000 von 425 000 SPD-Mitgliedern beteiligten sich nicht. So viel zu einem Vorschlag, den Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier, also ein Politiker der CDU, am Donnerstag gemacht hat, um Bürger und Politiker einander wieder näher zu bringen.

In einem Gastbeitrag für die Rheinische Post hat Altmaier Symptome der Entfremdung aufgezählt: zum Beispiel die Thüringen-Wahl, bei der CDU, SPD, Grüne und FDP gemeinsam unter 50 Prozent blieben; oder die Halbierung der Mitgliederzahl der Parteien. SPD und Union müssten erkennen, "dass die Abwendung von den Parteien nicht mehr nur monokausal, wie etwa mit der Flüchtlingspolitik oder dem Klimaschutz, zu erklären ist". Sondern? Eben. An dem Punkt hört Altmaiers Analyse auf. Es folgen Vorschläge: Online-Anhörungen für Bürger bei der Gesetzesberatung, weniger informelle Gremien, Verkleinerung des Bundestages, Zusammenlegung von Wahlterminen.

Wirtschaftsminister
:Altmaier fordert grundlegende Reform des politischen Systems

Die Thüringen-Wahl sei eine tiefgreifende Zäsur, sagt der Wirtschaftsminister. Er schlägt eine Verkleinerung des Bundestags, weniger Minister und eine längere Wahlperiode vor.

Wie es bei einem Paket von Vorschlägen so ist: Manches ist plausibel, anderes nicht. Würde man Wahltermine zusammenlegen, käme man aus dem Dauerwahlkampfmodus heraus; das ist erwägenswert. Der Bundestag hat wegen Überhang- und Ausgleichsmandaten derzeit 709 Mitglieder; 598 sind vom Gesetz vorgesehen. Da vor allem die Union von der Übergröße profitiert und deshalb eine Reform des Wahlrechts blockiert, hat sich Altmaier hiermit herzlich eingeladen, zur Lösung der Blockade beizutragen. Die Online-Anhörungen hingegen? Um Himmels Willen. Hannover, Mainz und die SPD zeigen es: Man soll die Bereitschaft von Bürgern, politisch aktiv zu werden, nicht überschätzen. Es lässt sich ahnen, wer die Server fluten würde: wer viel zu schreiben, aber wenig zu sagen weiß.

Woran Altmaiers Vorschläge garantiert nichts ändern: an der Entfremdung von Politikern und Bürgern. Da er nur Symptome aufzählt, sich aber nicht mit den Ursachen befasst, doktern seine Vorschläge nur an Symptomen herum. Über die Ursachen haben zwei andere CDU-Politiker geschrieben, Thomas de Maizière und Roland Koch. De Maizière, der frühere Innenminister, beklagt, dass ein wachsender Teil der Menschen egoistischer geworden sei und an Politiker Forderungen stelle, die diese nicht erfüllen können: "Sie wollen besseren Handyempfang, aber keine Masten." Gemeinwohlorientierung von Politikern falle schwer, wenn Individualverwirklichung der Bürger vorherrsche.

Roland Koch, der Ex-Ministerpräsident von Hessen, führt an, dass sich die Politik zu oft ihre Meinungsbildung von der Meinungsforschung abnehmen lasse. Ihr Angebot richtet sich nach der vermeintlichen Nachfrage. Sollte es nicht andersherum sein? Ludwig Erhard hat nach dem Krieg die Freigabe der Preise durchgedrückt, Willy Brandt die Ostpolitik, Helmut Kohl den Nato-Doppelbeschluss; und Emmanuel Macron hat sich im Wahlkampf gegen die Populisten gestellt, die die EU kaputtmachen wollen. "Wer will, dass Menschen ihm folgen, muss als erster vorangehen", sagt Koch.

Im Bundeskabinett gibt es einige, bei denen man spürt, dass sie etwas wollen, und auch, was; bei Jens Spahn, bei Franziska Giffey, bei Hubertus Heil. Zur Zwischenbilanz der Koalition gehört indes auch: Andere, und zwar zu viele, vermitteln diesen Eindruck nicht. Was ist ihr Anliegen, warum haben sie Politik zum Beruf gemacht, was wollen sie mit ihrem Ministeramt? Und werden sich nächstes Jahr nicht nur Kanzlerkandidaten finden, sondern auch solche mit einer Idee? Letztlich ist es wie in jedem Job: Wer keine Idee davon hat, dem wird auch Meinungsforschung kaum helfen; schon gar nicht, wenn sie als Online-Anhörung daherkommt.

© SZ vom 08.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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