Die Verteidigungsminister der Nato haben am Donnerstag in Brüssel einen neuen übergreifenden Plan zur Verteidigung des europäischen und nordatlantischen Bündnisgebiets verabschiedet. Darin legt die westliche Allianz fest, wie sie auf mögliche Attacken Russlands reagiert, aber auch auf die fortwährende Bedrohung durch Terrorismus. Es ist der erste umfassende Plan dieser Art seit Ende des Kalten Krieges. Abgedeckt sind darin Szenarien, die von konventionellen militärischen Angriffen über hybride Kriegsführung bis zu Cyber-Attacken und Desinformationsoffensiven reichen, ebenso wie Kombinationen daraus sowie simultane Attacken etwa im Baltikum und in der Schwarzmeer-Region.
Das Bündnis zieht damit Konsequenzen aus der "veränderten Sicherheitslage seit 2014", wie es in Brüssel heißt. Auslöser für die Rückbesinnung der Nato auf die Bündnisverteidigung war die Annexion der Krim durch Russland. Die Verteidigungsplanung ist auch eine Antwort darauf, dass Moskau bei atomwaffenfähigen Mittelstreckenwaffen aufrüstet und neue Waffensysteme entwickelt. So haben die russischen Streitkräfte jüngst Kampfroboter im Manöver erprobt, sie arbeiten an der Nutzung künstlicher Intelligenz und modernisieren weltraumgestützte Systeme.
Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) sagte, die Nato müsse sich "sehr klar dem Verhalten und den Bedrohungen Russlands gegenüber" positionieren. Dies geschehe mit der Fortschreibung der militärischen Planung, die an die politischen Beschlüsse der Staats- und Regierungschefs beim Nato-Gipfel im Juni in Brüssel anknüpft. Sie verwies auf Verletzungen des Luftraums über den baltischen Staaten und das aggressive Verhalten Russlands in der Schwarzmeer-Region.
Künftige Konflikte werden "nicht nur mit Patronen und Bomben ausgetragen, sondern auch mit Bytes und Big Data"
Zugleich müsse die Allianz weiter offen für einen Dialog mit dem Kreml sein, sagte Kramp-Karrenbauer. Russland hatte jüngst angekündigt, die Beziehungen zur Nato abzubrechen und seine Vertretung bei der Allianz zu schließen. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hatte am Mittwoch konstatiert, das Verhältnis zu Russland sei auf dem tiefsten Punkt seit Ende des Kalten Krieges angelangt. Hintergrund ist die Ausweisung von acht russischen Diplomaten, die bei der Nato akkreditiert waren. Die Allianz begründete dies mit geheimdienstlichen Aktivitäten der Diplomaten.
Am Donnerstag wurde aber deutlich, dass die Konflikte tiefer gehen: Russlands Vizeaußenminister Andrej Rudenko warnte die Nato, jeder weitere Schritt hin zu einer Mitgliedschaft der Ukraine werde Konsequenzen haben. US-Verteidigungsminister Lloyd Austin hatte am Dienstag bei einem Besuch in Kiew klargestellt, Moskau habe diesbezüglich kein Vetorecht. Zugleich machte er deutlich, dass das Land die Bedingungen für eine Aufnahme noch nicht erfüllt. Im Mai hatte Russland mehr als 100 000 Soldaten an der Grenze zu dem Nachbarland zusammengezogen, was Sorgen vor einem Einmarsch schürte.
Einhergehend mit den neuen Vorgaben der Nato für die Verteidigung und Abschreckung verabschiedeten die Minister auf vier Jahre angelegte Pläne für militärische Fähigkeiten, die nötig sind, um die Strategie umzusetzen. Dabei geht es etwa um Luftraumverteidigung, Cyber-Fähigkeiten und Aufklärungskapazitäten. Die Alliierten hätten vereinbart, mehr Einheiten mit hoher Einsatzbereitschaft bereitzustellen, ausgestattet mit schwererer Bewaffnung und modernster Technologie, sagte Stoltenberg. Dazu seien auch weiter steigende Verteidigungsausgaben nötig. Ein Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums sagte, Deutschland habe seine Zielvorgaben für 2021 komplett erfüllt.
Die Verteidigungsminister einigten sich auch auf einen Fonds von einer Milliarde Euro, der die Entwicklung verteidigungsrelevanter Technologien durch private Unternehmen unterstützen soll, vor allem im Cyber-Bereich. Künftige Konflikte würden "nicht nur mit Patronen und Bomben ausgetragen, sondern auch mit Bytes und Big Data", sagte Stoltenberg.
Dem Verteidigungsbündnis stehen aber weitere Debatten über die strategische Ausrichtung bevor. Vor allem Frankreich setzt sich für eine größere Eigenständigkeit der Europäer ein, während die USA eine größere Rolle der Nato im angespannten Verhältnis zu China wünschen. Bei einem Treffen der EU-Verteidigungsminister vor der Nato-Tagung stellte Kramp-Karrenbauer einen mit Finnland, den Niederlanden, Portugal und Slowenien ausgearbeiteten Vorschlag für eine schnelle Eingreiftruppe der EU vor.
Die bereits existierenden EU-Battlegroups sollen demnach zu schlagkräftigen und kurzfristig einsetzbaren Krisenreaktionskräften weiterentwickelt werden, die auch auf Weltraum- und Cyber-Fähigkeiten sowie Spezialeinsatzkräfte und strategische Lufttransportkapazitäten zurückgreifen können sollen. Beim überhasteten Abzug aus Afghanistan war einmal mehr deutlich geworden, dass die europäischen Alliierten von der Unterstützung der USA abhängig sind.