Wenn Alexej Nawalny an diesem Dienstag vor Gericht steht, stehen vor dem Gerichtsgebäude seine Anhänger, so viel lässt sich vorhersagen. Nawalnys Team hat die Menschen vor das Moskauer Stadtgericht gerufen, das entscheidet, ob der Oppositionspolitiker für dreieinhalb Jahre ins Straflager muss. Über eine "reale Strafe" in einem "absolut fabrizierten Fall", schreibt Nawalnys Team. Am Sonntag waren Zehntausende dessen Protestaufruf gefolgt. Sie forderten "Freiheit für Alexej Nawalny".
Der Fall, für den die Strafvollzugsbehörde ihn einsperren will, ist mehrere Jahre alt und galt schon damals als politisch motiviert. 2014 wurden Alexej Nawalny und sein Bruder Oleg wegen Betrugs und Geldwäsche verurteilt. Als Geschädigter galt der französische Kosmetikkonzern Yves Rocher. Dessen russisches Tochterunternehmen war zwischen 2008 und 2012 Kunde einer Logistikfirma gewesen, die Alexej und Oleg Nawalny gegründet hatten.
Zwar sagte der Finanzdirektor der russischen Yves-Rocher-Tochter damals aus, seiner Firma sei "keinerlei Schaden" durch die Brüder Nawalny entstanden. Trotzdem verurteilte das Gericht beide zu dreieinhalb Jahren Gefängnis. Alexej Nawalnys Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt, sein Bruder Oleg musste ins Straflager. Das Urteil wurde von Kremlkritikern als Versuch gewertet, Nawalny einerseits durch die Sippenhaft für seinen Bruder unter Druck zu setzen. Andererseits wollten die Behörden offenbar größere Proteste vermeiden, indem sie Alexej Nawalny auf freiem Fuß ließen.
"Der gesamte Prozess ist politisch", sagte Ljudmila Alexejewa
"Es gab weder für eine Bewährungs- noch für eine lange Haftstrafe eine Grundlage", kritisierte damals die inzwischen verstorbene Menschenrechtlerin Ljudmila Alexejewa. "Der gesamte Prozess ist politisch." Die deutsche Bundesregierung sprach von einem "Schlag gegen die kritische Zivilgesellschaft in Russland". Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nannte das Urteil "willkürlich". Dennoch möchte die russische Strafvollzugsbehörde es jetzt nutzen, um Nawalny doch noch hinter Gitter zu bringen. Dieser habe gegen seine Bewährungsauflagen verstoßen, so der Vorwurf. Nawalny hatte sich seit August in Deutschland von einem Anschlag mit dem Nervengift Nowitschok erholt und sich in dieser Zeit nicht persönlich bei der Behörde gemeldet. Als er Mitte Januar nach Russland zurückkehrte, wurde er an der Passkontrolle festgenommen. Seine Bewährungsstrafe könnte daher in Gefängnis umgewandelt werden.
Gleichzeitig droht Nawalny eine weitere Anklage wegen Betrugs. Er soll Spendengelder für seinen Antikorruptionsfonds veruntreut haben. Er habe nie "eine einzige Kopeke" dieses Geldes für sich genommen, sagte Nawalny. Die neuen Vorwürfe verschlechtern seine Lage massiv: Wer während der Bewährungszeit ein Verbrechen begeht, dessen ausgesetzte Strafe wird durch Gefängnis ersetzt. Womit Nawalny eigentlich zwei Haftstrafen drohen, für die alten und die neuen Betrugsvorwürfe. Es gilt aber auch: Sollte er tatsächlich für Jahre eingesperrt werden, drohen dem Kreml neue Proteste.
Wie viel Durchschlagskraft die Demonstrationen entwickeln können, hat Nawalnys Team gezeigt. Am Sonntag zogen sich die Proteste wieder durch das ganze Land. Obwohl die Sicherheitskräfte mit größerer Gewalt und mehr Festnahmen als vor einer Woche antworteten, schreckte das die Menschen nicht ab.
Experten vergleichen die Lage mit der in Belarus
Russische Medien und Experten diskutieren deswegen bereits die Parallelen zur Lage in Belarus. Dort gehen seit Monaten regelmäßig Menschen gegen Machthaber Alexander Lukaschenko auf die Straße. Der grundlegende Unterschied ist: In Belarus folgten die Proteste einer gefälschten Wahl, Lukaschenko gilt dort nicht mehr als legitimer Präsident. Eine Mehrheit lehnt ihn ab, für Wladimir Putin gilt das nicht. Und inwieweit die Demonstrierenden in Russland für eine grundlegende Stimmung im Land stehen, muss sich erst herausstellen. "In Belarus ist die Situation völlig anders, genau wie in der Ukraine", sagte etwa Kremlexperte Gleb Pawlowskij am Montag der Nowaja Gaseta. "Andere Menschen leben dort, sie haben eine ganz andere Emotionalität."
Nawalnys Team hat sich offenbar aber Taktiken der belarussischen Opposition abgeschaut. Über soziale Medien dirigierte es die Demonstrierenden von Ort zu Ort, diese suchten sich neue Wege, wenn die Polizei die offensichtlichen Zugänge absperrte. Den russischen Einsatzkräften fiel es schwer, den Protest unter Kontrolle zu bekommen - ähnlich wie voriges Jahr der Polizei in Minsk. "Das belarussische und das Putin-Regime sind in Wirklichkeit sehr ähnlich", sagte der Oppositionelle Ilja Jaschin am Montag dem unabhängigen Sender Doschd. Beide stützten sich auf "bewaffnete Sadisten und Polizeiknüppel".
Andrej Kolesnikow vom Moskauer Carnegie-Zentrum sieht in der "moralischen Stärke" der Protestierenden in Belarus und Russland eine Gemeinsamkeit. In beiden Ländern stellten sie sich gegen eine autokratische Regierung. Sie forderten praktisch, dass sich die Mächtigen an die Gesetze halten.
Konkret wollen die Menschen in Belarus, dass die Präsidentschaftswahl wiederholt wird. In Moskau wollen sie zuallererst, dass Nawalny freigelassen wird. Der Protest in Belarus ist grundsätzlicher, bisher jedenfalls.