Rheinland-Pfalz:Eine Todesnacht, Minute für Minute rekonstruiert

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Das Standbild aus dem Video eines Polizeihubschraubers zeigt ein Haus, das von Wasser eingeschlossen ist. (Foto: ---/picture alliance/dpa/Polizei Rhe)

Untersuchungsausschüsse gelten als "schärfstes Schwert" der Opposition, bleiben aber oft stumpf. Der zur Flutkatastrophe im Ahrtal war anders. Ein Zwischenstand zum Ende der Beweisaufnahme.

Von Gianna Niewel, Frankfurt am Main

Am Ende wird die Polizistin in Erinnerung bleiben, die sagte, sie habe am Abend der Flutkatastrophe im Ahrtal Dienst gehabt. Bereits um 22 Uhr habe sie gewusst, dass im Ort Schuld sechs Häuser weggespült wurden. Sie habe mehrmals im Lagezentrum angerufen, habe von weiteren überschwemmten Häusern erzählt. Im Lagezentrum habe es geheißen, sie solle doch bitte einen Bericht schreiben. Es wird der Pilot in Erinnerung bleiben, der sagte, er sei am Abend über das Ahrtal geflogen und habe Menschen gesehen, die in ihren Autos ertranken. Er habe sie nicht retten können, weil der Hubschrauber keine Seilwinde hatte. Am Ende wird auch der Staatssekretär aus dem Umweltministerium in Erinnerung bleiben, der sagte, er habe Nachrichten geschaut und "ein Bierchen" getrunken. Dann sei er schlafen gegangen. Vom Ausmaß der Katastrophe habe er nichts gewusst.

Wenn an diesem Freitag die Beweisaufnahme im Untersuchungsausschuss zur Flutkatastrophe endet, haben im Mainzer Landtag in 41 Sitzungen 222 Zeuginnen und Zeugen ausgesagt. Wie konnte es im Sommer 2021 zu der Katastrophe kommen? Wer trägt dafür die Verantwortung? Es wird nicht nur um Erinnerungen gehen - sondern auch um Erkenntnisse.

"Wir konnten den Abend atomisieren, wie ich immer sage, also Minute für Minute nachvollziehen. Die Zahl der systemischen Probleme ist erschreckend", sagt der Obmann der Freien Wähler.

"Die Kommunikation zwischen den einzelnen Ebenen hat nicht funktioniert, nicht zwischen den Ministerien, nicht zwischen Ministerien, Behörden, Kreis Ahrweiler. Vorliegende Erkenntnisse wurden nicht übermittelt oder - wenn doch - falsch interpretiert", sagt der Obmann der AfD.

"Weder die Ministerpräsidentin noch die zuständigen Minister haben bisher bei den Menschen um Entschuldigung gebeten. Wir brauchen eine andere Kommunikation im Umgang mit Fehlern", sagt der Obmann der CDU.

Es ging nicht um Steuergelder, sondern um 134 tote Menschen

Untersuchungsausschüsse gelten als das "schärfste Schwert" der Opposition, die Abgeordneten können Sachverständige befragen, Akten anfordern, Fehler aufarbeiten. Dass das Schwert oft stumpf bleibt, hat mit Parteipolitik zu tun. Die Regierung verteidigt sich, die Opposition greift an, ein Spiel mit bekannten Rollen. Dass dieser Ausschuss anders war, dürfte daran liegen, dass es nicht um Steuergelder ging - da sind in einer Nacht 134 Menschen gestorben. Mehrere Obmänner erzählen, dass Angehörige sie um Aufklärung gebeten hätten. Mit in der Post: Fotos der Verstorbenen. Und so sagen auch die Obmänner in der Opposition, dass die Regierung die Arbeit "nicht behindert" habe. Was aber haben sie erreicht?

Zunächst einmal sind da die personellen Konsequenzen. Vor den Abgeordneten saß Anne Spiegel (Grüne), sie war während der Flutkatastrophe Umweltministerin in Rheinland-Pfalz. Wenige Tage danach war sie mit ihrer Familie in den Urlaub gefahren, sie hatte behauptet, von dort an Sitzungen teilgenommen zu haben. Hatte sie nicht. Vor den Abgeordneten saß Roger Lewentz (SPD), er war Innenminister und musste erklären, wieso 14 Monate nach der Flut plötzlich Hubschraubervideos auftauchten. Lewentz hatte behauptet, die Videos nicht gekannt zu haben, und selbst wenn er sie gekannt hätte, hätte er nicht eingegriffen, denn er sehe keine Toten. Beide mussten zurücktreten.

Und dann ist da Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD). Sie verteidigte sich zwei Mal fast wortgleich. Sie habe am Abend vom Ausmaß der Katastrophe nichts gewusst. Sie habe auf das vertraut, was ihr der Innenminister mitgeteilt habe: Vor Ort sei "alles organisiert". Seine SMS um 0.58 Uhr - "es kann Tote geben/gegeben haben" - habe sie erst am nächsten Morgen gesehen. Im Landtag konnte die Opposition ihr das Gegenteil nicht nachweisen, die Rücktrittsforderungen verhallten. Die Menschen im Land reagierten trotzdem: Laut einer Umfrage von Infratest Dimap waren bei der Landtagswahl 2021 noch 66 Prozent mit ihrer Arbeit zufrieden - in diesem März waren es 53 Prozent. Es ist der niedrigste Wert ihrer Amtszeit.

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"Dass zwei Minister zurücktreten müssen, ist sehr ungewöhnlich", sagt Uwe Jun, Politikwissenschaftler an der Universität Trier. Aber noch wichtiger seien die inhaltlichen Resultate. Die Abgeordneten konnten zeigen, wie viele Defizite der Hochwasser- und Katastrophenschutz hat.

In der Leitstelle in Koblenz gingen an dem Abend so viele Notrufe ein, dass sie sie nicht mehr direkt annehmen konnten, sie waren aber nicht zuständig dafür, ein Modulares Warnsystem auszulösen. In der ADD, der Aufsichts- und Dienstleistungsbehörde des Landes Rheinland-Pfalz, sollte ein Lagebild erstellt werden, das war aber erst um 3.15 Uhr in der Nacht fertig. Und in Ahrweiler hätte der Landrat den Katastrophenfall auslösen können, was er zunächst nicht tat. Stattdessen sagte eine Nachbarin im Untersuchungsausschuss, sie habe gesehen, wie aus seiner Garage ein Porsche weggefahren wurde. Erst nach 23 Uhr begannen die Evakuierungen. Die Staatsanwaltschaft Koblenz ermittelt gegen den Mann.

Wenn an diesem Freitag die Beweisaufnahme im Untersuchungsausschuss endet, haben die Abgeordneten zurückgeschaut auf die Tage der Flut. Was bleibt außer 6618 Seiten Protokoll bisher?

Im Innenministerium heißt es, man arbeite daran, ein Lagezentrum einzurichten, das 24 Stunden am Tag besetzt sei. Wann es fertig sei? Voraussichtlich 2024. Im Umweltministerium heißt es, man arbeite an einem Hochwasservorsorgekonzept. Wann das fertig ist? "Diverse Bausteine sind bereits in der Bearbeitung bzw. beauftragt." Und bei der Investitions- und Strukturbank, die für die Auszahlung der Wiederaufbauhilfen zuständig ist, sind 940 Millionen Euro bewilligt, aber erst 479 Millionen ausgezahlt. Und so endet zwar die Beweisaufnahme im Untersuchungsausschuss - der Abschlussbericht soll Ende des Jahres vorliegen -, die Arbeit außerhalb der Sitzungen geht weiter.

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