Untersuchungsausschuss:Warum Deutschland so wenige Ortskräfte aus Afghanistan rettete

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Abzug aus Masar-i-Scharif: Die letzten Soldaten der Bundeswehr verlassen 2021 ihr Feldlager und fliegen zurück nach Deutschland. (Foto: Torsten Kraatz/DPA)

Der frühere Vize-Botschafter in Kabul erklärt vor dem Ausschuss, dass die Evakuierung Tausender Menschen bis zur Machtergreifung der Taliban "keine Option" war - weil das eine verhängnisvolle Kettenreaktion in Gang gesetzt hätte.

Von Mike Szymanski, Berlin

Ein Diplomat hat als Zeuge vor dem Afghanistan-Untersuchungsausschuss Deutschlands Zögerlichkeit bei der Rettung von Ortskräften mit der Sorge vor einem "Domino-Effekt" begründet. Gregory Bledjian, bis Mitte Juni 2021 stellvertretender Botschafter in Kabul, führte am Donnerstag vor den Abgeordneten aus, im großen Umfang Ortskräfte aus dem Land zu bringen, hätte zur Folge gehabt, dass die Bundeswehr und die im Land tätigen Organisationen ihre Maßnahmen zur Stabilisierung hätten einstellen müssen. Dies wäre von den Partnern als Signal verstanden worden, dass die Deutschen das Land verlassen, und hätte sie wahrscheinlich veranlasst, ebenfalls zu gehen. In seiner Zeit an der Botschaft sei die Evakuierung demnach "keine Option" gewesen, die sie befürwortet hätten.

Der Untersuchungsausschuss soll klären, wie es dazu hatten kommen können, dass Deutschland im Bündnis mit den westlichen Partnern von den Entwicklungen in Afghanistan offenkundig so überrascht wurde. Der Abzug im Jahr 2021 mündete in einem Debakel. Die Bundeswehr musste im August in einer riskanten Rettungsaktion deutsche Staatsbürger und Schutzbedürftige aus Afghanistan ausfliegen, nachdem die Taliban die Herrschaft im Land wieder übernommen hatten. Für Tausende Ortskräfte kam die Hilfe zu spät. Sie blieben im Land zurück.

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Mehr als 30 Einheimische, die früher für die Bundeswehr oder andere deutsche Institutionen arbeiteten und auf die Ausreise warteten, sind nicht mehr am Leben.

Einen so schnellen Kollaps habe er nicht erwartet, sagte der Diplomat

Bei der Sitzung des Ausschusses am Donnerstag bestätigte sich, dass lange vor dem Fall Kabuls im August damit gerechnet werden musste, dass die Taliban die Macht im Land übernehmen könnten. Bereits im Frühjahr 2020 sei ein klarer Trend erkennbar gewesen, sagte der Diplomat: "Die Sicherheitslage hat sich kontinuierlich verschlechtert."

Gregory Bledjian gab an, in regelmäßigem Austausch mit den militärischen Führern gestanden zu haben. Anfang Juni 2021 hatten die Amerikaner ihn darüber in Kenntnis gesetzt, dass selbst Kabul nicht mehr als 100 Prozent sicher galt. Dies geht aus den Akten hervor, die ihm die Abgeordneten im Ausschuss vorhielten. Ein Sturm auf Kabul wurde aber von dem Diplomaten bis zuletzt "als unwahrscheinlich in den nächsten Monaten" eingestuft. Er sagte vor den Abgeordneten, einen so schnellen Kollaps habe er nicht erwartet.

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In seiner Funktion als Sicherheitsbeauftragter der Botschaft hatte er sich nach eigenen Angaben früh auch auf Evakuierungen eingestellt. Solche Pläne hätte er dafür im Sommer 2021 in der Schublade gehabt. Die Botschaft habe Ende 2020 ein Krisenberatungsteam aus Berlin angefordert, um über Sicherheitsfragen zu sprechen. An Evakuierungsplänen sei dann gearbeitet worden. Es habe auch eine "lange Liste mit Hausaufgaben" gegeben. Unter anderem musste mit den Amerikanern vereinbart werden, dass die Deutschen im Ernstfall deren Hubschrauber mit nutzen konnten.

"Das, was man vorher machen konnte, hat man gemacht", sagte der Diplomat, der Mitte Juni 2021 das Land verließ. Er führte aber auch aus, dass die Rettungspläne das Botschaftspersonal im Fokus hatten, mehrere Dutzend Leute, aber keineswegs Tausende Ortskräfte samt Familienangehörigen.

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