Schiffbruch von Pylos:Trauer im Nildelta

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Der Vater eines jungen Ägypters, der seit dem Untergang des Flüchtlingsschiffes vor Pylos vermisst wird, zeigt ein Foto seines Sohnes. (Foto: Mohamed Abd el Ghany/Reuters)

Trotz der Lebensgefahr fahren immer mehr Ägypter über das Mittelmeer Richtung Europa. Zugleich kommen Zehntausende Sudanesen in das arabische Land. Die EU sieht in Kairo deshalb einen wichtigen Partner, um die Migration einzudämmen.

Von Dunja Ramadan

Im ägyptischen Nildelta nördlich von Kairo trauern immer noch Dutzende Familien um ihre Angehörigen. Von dort haben sich etliche junge Männer auf den Weg nach Europa gemacht - ihr Boot ist vor der griechischen Küste gekentert. Die Berichte der Überlebenden geben der griechischen Küstenwache die Schuld daran.

Warum die vielen, oft minderjährigen Ägypter ihrer Heimat den Rücken gekehrt haben, erfährt man von den Familien, die in diesen Tagen Interviews geben. Die Mutter eines Verstorbenen aus asch-Scharqiyya etwa, dem östlichen Nildelta, sitzt im Schneidersitz auf dem Boden, ganz in Schwarz. "Mein Sohn Ahmed war ein Schreiner, aber hier gibt es keine Arbeit", berichtet sie auf Facebook. "Er saß nur herum. Was soll er schon machen?" Dann erzählt sie von ihrem Schicksal. Sie habe fünf Kinder als Halbwaisen großgezogen, ihr ältester Sohn Mohamed Elsherkawy lebt seit einigen Jahren in Italien, er sucht nun nahe Athen nach seinem jüngeren Bruder. Bislang ohne Erfolg.

Sie könne verstehen, warum diese Jungs losgezogen sind, alles verkauft haben, ihre Möbel, Waschmaschinen, das wenige, was sie hatten, um sich in Europa eine bessere Zukunft aufzubauen. "Sie haben ihre Seelen geopfert, sich ins Meer geworfen, damit sie Geld für ihre Kinder verdienen können", sagt die Mutter. Im Hintergrund lehnt eine junge Frau an der Wand, ihr Blick ist leer, einmal wischt sie sich mit dem Kopftuch die Tränen aus dem Gesicht. Sie ist jetzt Witwe. Und schwanger im sechsten Monat.

Die Migration über das zentrale Mittelmeer hat sich im ersten Halbjahr verdoppelt

Es dauerte, bis die lokalen Medien über das Kentern des Flüchtlingsboots vor der griechischen Küste und die große Zahl der ägyptischen Passagiere an Bord berichteten. Illegale Migration wird in Ägypten nicht gerne gesehen, die bekannte Showmasterin Lamis Elhadidy berichtet - nicht ohne einen Anflug von Stolz in der Stimme -, dass sich seit 2016 von der ägyptischen Küste kein Schiff mehr illegal nach Europa aufgemacht habe.

Auf der Website des ägyptischen Ministeriums für Auswanderung wird davor gewarnt, eindrücklich, etwa mit einem Totenkopf, gezeichnet in eine riesige Welle, die auf ein Flüchtlingsboot überzuschwappen droht. Dazu der Slogan: "Dein Leben ist wertvoll - wirf es nicht weg. Bevor du auswanderst, denk nach und lass dich beraten." Daneben ist die Nummer einer Hotline angegeben.

Ägypten kämpft derzeit mit einer schweren Wirtschaftskrise, die das Land so noch nicht gesehen hat: Die ägyptische Währung verliert stetig an Wert, alles wird teurer, der Ukraine-Krieg hatte unmittelbare Auswirkungen auf das Land am Nil, das von Getreideimporten abhängig ist. Die Auslandsverschuldung Ägyptens liegt mittlerweile bei 147,75 Milliarden Euro, was 93 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entspricht. Gleichzeitig wächst die Bevölkerung rasant. Viele Uni-Absolventen bewerben sich bei Firmen auf der Arabischen Halbinsel oder beantragen Visa in Staaten wie Kanada; weniger gut ausgebildete Ägypter wollen sich in Europa meist als Tagelöhner durchschlagen, dort genug ansparen, um zu heiraten, sich in der Heimat eine Wohnung zu kaufen.

Nach Angaben von Frontex, der europäischen Grenzschutzbehörde, hat sich die Migration über das zentrale Mittelmeer zum Vorjahreszeitraum verdoppelt. Nach den Menschen aus der Elfenbeinküste sind Ägypter hier die zweitgrößte Gruppe.

Viele Sudanesen fliehen nach Ägypten, viele Ägypter gehen nach Libyen

Vergangene Woche erst war der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell in Kairo und traf dort den ägyptischen Außenminister Sameh Shoukry. Natürlich ging es auch um Migration. Man müsse die "Anstrengungen verdoppeln, um einen nachhaltigen, humanen und sicheren Widerstand gegen die Migration zu schaffen", sagte Borrell in der ägyptischen Hauptstadt - und sicherte Ägypten 80 Millionen Euro für Grenzsicherung und den Kampf gegen Schmuggler zu. Außerdem stellte Borrell Ägypten noch 20 Millionen Euro zur Verfügung, um die steigende Anzahl an Flüchtlingen aus dem Sudan zu beherbergen. Bislang sind 200 000 Menschen von dort ins Nachbarland Ägypten geflohen, die UN rechnen bis Oktober mit mehr als einer Million Flüchtlinge.

Während die Sudanesen ins Land fliehen, wollen weiterhin viele Ägypter ihrer Heimat den Rücken kehren und Richtung Libyen ziehen. Die unabhängige ägyptische Nachrichtenseite Mada Masr hat mit zahlreichen Familien gesprochen, deren Kinder sich auf die gefährliche Reise gemacht haben - viele von ihnen haben bestätigt, dass sie in die Fänge libyscher Schmugglerringe geraten sind. Nicht alle Familien wussten offenbar von den Ausreiseplänen ihrer Kinder, viele dachten, sie würden in Libyen nur nach Arbeit suchen. Um sie vor Zwangsarbeit oder sogar Prostitution in Libyen zu bewahren, mussten die Familien mehrere Tausend Dollar für die Überfahrt nach Europa bezahlen.

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Von den bis zu 750 Passagieren haben nur 104 Menschen die Katastrophe von Pylos überlebt. 43 davon sind Ägypter, darunter fünf Minderjährige und 38 Männer im Alter von 20 bis 40 Jahren. Neun von ihnen haben die griechischen Behörden als mutmaßliche Schleuser verhaftet. Dimitris Drakopoulos, der Pflichtverteidiger eines Angeklagten, sagte allerdings: "Mein Mandant bestreitet die Vorwürfe. Er sagt, er sei auch ein Opfer gewesen, auch er habe für den Transfer von Ägypten nach Italien einen beträchtlichen Betrag in ägyptischer Währung bezahlt." Einer der Männer soll laut griechischen Medien zugegeben haben, Geld dafür erhalten zu haben, um während der Reise Arbeiten am Schiff vorzunehmen.

In den sozialen Netzwerken posten Verwandte derweil noch Bilder ihrer Liebsten, darauf lachen junge Männer in die Kamera, manche mit Flipflops am Strand, andere im Anzug auf einer Hochzeit. Die meisten bitten allerdings nur noch um die Leichen ihrer Angehörigen. Sie wollen sie wenigstens in Ägypten begraben.

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