Flüchtlinge in Deutschland:Abschiebungen nach Afghanistan stellen Merkels Vermächtnis infrage

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Ehrenamtliche Initiative in Limburg: Flüchtlinge lernen am Bild von Bundeskanzlerin Angela Merkel die deutsche Sprache. (Archiv) (Foto: dpa)

Nicht in ihrer Flüchtlingspolitik als Ganzes, wohl aber in Sachen Afghanistan hat die Kanzlerin eine Kehrtwende vollzogen. Zum Glück - denn es braucht ein besseres Verfahren für Menschen aus diesem Land.

Kommentar von Nico Fried

Vor ein paar Monaten traf Angela Merkel auf einer CDU-Veranstaltung in Heidelberg den kleinen Edris: ein Junge aus Afghanistan, der sich für die Aufnahme in Deutschland bedankte, Merkels Hände berühren wollte und ihr dann erzählte, mit wem er schon alles Deutsch spreche. Er möge die Sprache gut weiterüben, sagte die Kanzlerin.

Das ist so weit eine sehr schöne Geschichte - aber es ist durchaus möglich, dass sie eines Tages noch so dramatisch endet, wie die eines 20-jährigen Afghanen, den die Polizei in Nürnberg zur Abschiebung aus einer Schule holte, was seine Mitschüler beherzt verhindern wollten.

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Nun sollen sie ausgesetzt werden, bis ein neues Bild der Sicherheitslage in Afghanistan vorliegt, Provinz für Provinz. Das kann dauern. So viel ist gewiss: Einstweilen gibt es keine Bilder mehr von entsetzten Afghanen und Rangeleien Jugendlicher mit Polizisten. Das ist ein Erfolg der couragierten Schüler von Nürnberg - und liegt auch an den besonderen Umständen eines Wahljahres.

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Ein Weiter-so hätte die Kanzlerin politisch nicht durchgehalten. Angela Merkel hat die Frage der Abschiebungen nach Afghanistan jüngst als eines ihrer "schwierigsten Themen" bezeichnet. Das gilt wegen der menschlichen Schicksale, die von den juristischen Vorgaben des Asylrechts beeinflusst werden. Es gilt aber auch, weil mit den Abschiebungen nach Afghanistan das humanitäre Selbstverständnis des Landes zur Diskussion steht - und damit für Merkel auch ein Stück weit ihr Vermächtnis als Flüchtlingskanzlerin.

Merkel folgte in der Flüchtlingspolitik von Anfang an einem Sowohl-als-auch-Prinzip. Es wird gerne übersehen, dass sie nicht nur Hunderttausende notleidender Menschen ins Land gelassen hat, sondern immer auch einer verstärkten Abschiebung derer das Wort redete, die kein Bleiberecht haben. Das eine bezeichnete sie stets als Bedingung für die Akzeptanz des anderen. Deshalb stimmt auch der Vorwurf nicht, die Kanzlerin habe in der Flüchtlingspolitik insgesamt eine komplette Kehrtwende hingelegt.

Trotzdem wühlen die Abschiebungen die Emotionen wieder auf, die nach dem Herbst 2015 das Land gespalten hatten. Aber diesmal stehen jene, die Merkels Flüchtlingspolitik seinerzeit begrüßten, eher gegen die Kanzlerin. Sie hat das auf dem Kirchentag erlebt, als sie sich von denselben Zuhörern, die sie für die Flüchtlingspolitik im Allgemeinen beklatschten, wegen der Abschiebungen nach Afghanistan Pfiffe anhören musste.

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Es gibt nachvollziehbare Gründe für Abschiebungen nach Afghanistan. Dazu gehört, dass das wirtschaftliche Elend kein Asylgrund sein kann, weil es sonst Asylgrund für Flüchtlinge aus unzähligen anderen Staaten rund um den Globus sein müsste. Dazu gehört die Sorge der Regierung in Kabul, dass mit den Flüchtlingen die leistungsstärksten Menschen beim Wiederaufbau fehlen. Dazu gehört, dass ein Bestandteil des Rechts sein muss, dass es gerecht, also für jeden in gleicher Weise, angewendet wird.

Menschen die da sind, sollten mehr Sicherheit bekommen

Merkel hat diese Gründe alle angeführt. Aber wie sehr sie selbst wackelte, war auf dem Kirchentag zu sehen. Da verwies sie darauf, dass wegen der zu langsamen Asylverfahren von 150 000 Afghanen, die seit 2015 gekommen seien, erst rund 1000 mit einer Rückführung konfrontiert wurden. Anders gesagt: Merkel benutzte eine Zahl, die aus staatlichem Unvermögen entstanden ist, um Kritiker zu beruhigen. Das kann nicht funktionieren. Und das hat sie nun eingestanden. In Sachen Afghanistan hat Merkel eine Kehrtwende vollzogen.

Afghanistan ist auch ein besonderer Fall, weil Deutschland in den vergangenen Jahren so viel Geld und Menschenleben investiert hat, um stabile Verhältnisse herzustellen. Deshalb ist das auch die Geschichte einer unvollendeten Verpflichtung und ihrer Konsequenzen. Im Herbst 2015 fand Merkels Regierung für syrische Kriegsflüchtlinge eine rechtliche Begründung zur Aussetzung des Dublin-Abkommens.

Das Moratorium jetzt sollte genutzt werden, um ein besser berechenbares Verfahren für Afghanen zu finden. Womöglich hilft eine Stichtagsregelung, um Menschen, die schon da sind, mehr Sicherheit zu geben, ohne zugleich einen neuen Ansturm auszulösen. Wenn dieselbe Energie auf diese Frage verwendet wird, mit der man zuletzt integrierte Afghanen aus Schulen geholt hat, wird sich ganz sicher eine Lösung finden lassen.

© SZ vom 02.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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