Wort des Jahres:Die Kraft der Bandwurmwörter

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Das Copyright für das Wort des Jahres gehört Olaf Scholz. Der Begriff ist aber alles andere als neu, seit Ewigkeiten wird er verwendet, um den Beginn der christlichen Zeitrechnung zu beschreiben. (Foto: Frank Rumpenhorst/dpa)

Mit einem einzigen Substantiv Dinge auszudrücken, für die es in anderen Sprachen ganze Sätze braucht - das ist eine Spezialität des Deutschen. Folgerichtig also, dass die "Zeitenwende" zum Wort des Jahres gekürt wurde. Eine Sprachkritik.

Von Marcel Laskus

Manchmal ist die Realität so schwer zu fassen, dass sogar den Deutschen ihre eigene Sprache dafür zu kalt und deskriptiv erscheint. Es bräuchte dann zur Abwechslung mal etwas Klangvolles, das Raum für Deutungen lässt. Ein neues, noch nicht völlig abgegriffenes Wort. Zu den schwer vorhersehbaren Besonderheiten des Horrorjahres 2022 gehört, dass es der schmallippige Olaf Scholz war, der dieses Bedürfnis bedient hat.

Im Bundestag sagte er am 27. Februar, drei Tage nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine: "Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor." Zeitenwende - die Zuhörer waren überzeugt. Genau das traf es ja in ihren Ohren. Alles war nun anders als noch drei Tage zuvor. Die Gesellschaft für deutsche Sprache sieht das genauso: Sie hat den Begriff zum Wort des Jahres 2022 gekürt.

Wer auch immer Olaf Scholz die Zeitenwende in die Rede geschrieben hat, musste gewusst haben, was er tat. Die Deutschen werden für den Klang ihrer Sprache nun wirklich nicht oft beneidet, außer vielleicht von internationalen Rammstein-Fans. Was hingegen verlässlich begeistert, sind die zusammengesetzten Substantive, im Ausland finden Begriffe wie "Zeitgeist" oder "Schadenfreude" wortwörtlich Anklang. Weil sie ein Gefühl oder einen Zustand ausdrücken, für das es in anderen Sprachen kein Wort, sondern nur umständliche Umschreibungen gibt. Nicht ausgeschlossen, dass in Tokio bald ein "Café Zeitenwende" eröffnet.

Zeitenwende also ist das Wort unserer Zeit, dabei ist der Begriff gar nicht neu. Er wird seit Ewigkeiten verwendet, um den Beginn der christlichen Zeitrechnung zu beschreiben. Dass das Wort "Wende" etwas ist, mit dem speziell die Deutschen sehr viel anfangen können, ist hingegen erst seit drei Jahrzehnten klar. Das weiß sicher auch Olaf Scholz.

Das Wort "Wende" hat in Deutschland seit dem Herbst 1989 einen besonderen Klang

Nachdem Egon Krenz seinen politischen Ziehvater Erich Honecker als Parteichef abgelöst hatte, sprach er am 18. Oktober 1989 in seiner Antrittsrede: "Fest steht: Wir haben in den vergangenen Monaten die gesellschaftliche Entwicklung in unserem Lande in ihrem Wesen nicht real genug eingeschätzt und nicht rechtzeitig die richtigen Schlussfolgerungen gezogen. Mit der heutigen Tagung des Zentralkomitees werden wir eine Wende einleiten." Die DDR war da zwar längst am Ende, aber das Wort "Wende" überlebte Egon Krenz. Laut dem Bürgerrechtler Rainer Eppelmann und dem Politikwissenschaftler Robert Grünbaum wurde der Begriff rasch zu einem Schlagwort für die avisierte neue Politik der SED. Und aus der Ideologie heraus schaffte der Begriff seinen Weg in die Alltagssprache.

In Deutschland ist der Begriff "Wende" bis heute allgegenwärtig. Was auch daran liegen mag, dass er das, was nach 1989 passierte, nicht wertend beschreibt - im Unterschied zum Begriff der "Friedlichen Revolution" etwa - sondern neutral. Eine Wende kann Gutes bringen und Schlechtes. Im oftmals explosiven Diskurs dient der Begriff "Wende" damit als notwendiges Schmiermittel, ohne dabei unpräzise zu sein. Insofern passt es gut, dass der salomonische Scholz abermals zu dem Begriff gegriffen hat.

Und doch gibt es einen Unterschied zur "Wende" von 1989. Der Begriff "Zeitenwende" mag treffend klingen, er liest sich schön. Auch von internationale Medien, über die New York Times bis zum britischen Guardian, wurde er aufgegriffen. Wenn man aber hierzulande über das reden will, was seit Februar in der Ukraine passiert, nicht im Parlament, sondern am Küchentisch, in der Kneipe, auf der Straße, dann bleibt am Ende nur ein einziges, schlichtes Wort, das die Realität ausreichend treffend beschreibt: Es lautet Krieg.

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