Beim Sex einfach das Kondom abstreifen, ohne es der Partnerin, dem Partner zu sagen: Das ist "Stealthing", eine Form des Missbrauchs bei ansonsten einvernehmlichem Geschlechtsverkehr. Dass dabei der hintergangenen Person Unrecht angetan wird, dürften die wenigsten bestreiten. Nur: Wie man diese Tat juristisch bewerten soll, ist alles andere als klar.
Nun hat ein Gerichtsverfahren in der Schweiz diese Frage erneut aufgeworfen. Am Donnerstag sprach das Obergericht Zürich einen Mann in zweiter Instanz frei, der wegen Stealthing vor Gericht gelandet war. Der damals 19-jährige Student war beim Sex mit einer 18-jährigen Studentin zunächst mit, dann ohne Kondom in die Frau eingedrungen, woraufhin sie den Mann anzeigte.
Im Februar urteilte das Bezirksgericht Bülach erstmals über den Fall, bei dem Aussage gegen Aussage steht: Nach Angaben des Beschuldigten hat die Frau ihm das Kondom abgenommen, um ihn zu stimulieren, danach sei er davon ausgegangen, dass sie ihn aufgefordert habe, ungeschützt in sie einzudringen. Die Frau bestreitet diese Darstellung.
Sie habe ihm das Kondom nicht abgenommen und habe sofort protestiert, als sie bemerkt habe, dass er es nicht mehr trägt. Die Staatsanwaltschaft hatte den Studenten wegen Schändung angeklagt. Eine Besonderheit des schweizerischen Strafgesetzbuches: Als Schändung wird in der Schweiz sexueller Missbrauch bezeichnet, der darauf basiert, dass das Opfer widerstandsunfähig ist. Ein solcher Missbrauch liege durch das fehlende Wissen der Frau vor, argumentierte der Staatsanwalt.
Doch das Gericht entschied anders. Es sprach den Beschuldigten frei - nicht, weil es der Frau nicht glaube, sondern weil hier eine Gesetzeslücke vorliege. Der Mann habe sich nicht an die vereinbarten Regeln gehalten, aber das sei keine Schändung im juristischen Sinn. Das Bundesgericht müsse hier Rechtssicherheit schaffen, so der vorsitzende Richter. Ähnlich sah es am Mittwoch die nächsthöhere Instanz, das Zürcher Obergericht: Stealthing sei "moralisch verwerflich", aber eben nicht strafrechtlich erfasst.
Es ist bereits der dritte Stealthing-Fall vor einem Schweizer Gericht. Ein Mann aus dem Kanton Waadt wurde 2017 in erster Instanz wegen Vergewaltigung verurteilt, in zweiter Instanz entschied das Kantonsgericht, dass die Tat des Mannes als Schändung zu werten sei.
Am Strafgericht Basel-Land musste sich im vergangenen Januar ein Mann wegen Stealthing verantworten. Auch hier sprach die Staatsanwaltschaft von Schändung, doch das Gericht sprach den Mann frei - aus denselben Gründen wie die beiden Gerichte im Kanton Zürich.
Stealthing wirft neue Fragen auf
Das noch relativ junge Phänomen Stealthing fordert die Justiz heraus, das zeigt auch ein Fall in Deutschland. Im Dezember 2018 stand hierzulande erstmals ein Mann wegen Stealthing vor Gericht. Der Bundespolizist hatte beim Sex mit einer Polizeimeisteranwärterin heimlich das Kondom abgezogen.
Die Staatsanwaltschaft beschuldigte den Mann der Vergewaltigung, doch das Gericht entschied, nur das Abziehen des Kondoms als Straftatbestand zu werten, nicht den Geschlechtsverkehr, der an sich einvernehmlich gewesen sei. Es verurteilte den Mann wegen eines sexuellen Übergriffs zu einer achtmonatigen Bewährungsstrafe, außerdem sollte er knapp 3100 Euro an die Frau bezahlen.
Obwohl der Beschuldigte damit dem Vergewaltigungsurteil entgangen war, zog er das Verfahren weiter ans Berliner Landgericht. Dort wurde das Urteil am Mittwoch prinzipiell bestätigt, die Bewährungsstrafe aber von acht auf sechs Monate heruntergestuft.
Kann Sex ohne Kondom wirklich noch einvernehmlich sein, wenn die Zustimmung nur dem geschützten Verkehr gilt? Die verschiedenen Gerichtsverfahren machen deutlich, dass Stealthing grundsätzliche Fragen aufwirft, die viele Rechtssysteme im Moment (noch) nicht beantworten können.