"Oha", sagt die Oma. Sie trägt Pelzmütze, Pelzmantel, Pelzstiefel und eine pelzbesetzte Handtasche. Man könnte die alte Dame für einen vergilbten Eisbären halten, aber Eisbären haben meistens keine goldenen Sonnenbrillen mit Glitzersteinchen auf der Nase. Kurz überlegt man, ob Handtaschen eigentlich frieren können, da fängt das Ding an zu fiepen. Das Täschchen ist ein Hündchen, das ein Jäckchen mit Pelzkrägelchen trägt, an den Füßchen hat das Tierchen glitzernde Schühchen.
Oha und Fiep sind Laute der Anerkennung. Denn gerade ist eine Horde Rennpferde am Publikum vorbeigeprescht. In Führung liegt Dynamites, ein vier Jahre alter kastanienbrauner Araberhengst, geritten vom deutschen Jockey Maxim Pecheur. Die Reiter tragen Skibrillen, die Pferde sind mit geriffelten Alu-Hufeisen ausgerüstet, die für Extra-Grip auf dem Schnee sorgen. "Dynamites ist noch vor einer Woche erfolgreich auf einer Sandbahn in Saudi-Arabien gelaufen", berichtet der Kommentator über Lautsprecher. Jetzt galoppiert der Jetset-Hengst bei minus zehn Grad in 1768 Metern Höhe über Schnee und Eis im Oberengadin.
Es sind ganz besondere Pferderennen, die an diesen drei Wochenenden im Februar in St. Moritz stattfinden. Zum einen, weil die hochkarätig besetzten Trab-, Galopp- und Skijöring-Rennen schon seit 1907 auf dem zugefrorenen St. Moritzersee ausgetragen werden. Zum anderen aus sozialpsychologischer Perspektive: Fast interessanter als der Blick auf die Rennbahn ist der Blick ins Publikum. "White Turf" ist ein Zwei-Klassen-Volksfest. Gewöhnliche Besucher zahlen 81,90 Franken für einen nummerierten Sitzplatz oder 20,80 Franken für einen Stehplatz und wärmen sich ihre Hände an einer Bratwurst für sieben Franken. Die VIPs werden von Sponsoren eingeladen, sitzen an gedeckten Tischen unter Heizpilzen, trinken Champagner aus Magnum-Flaschen und schlürfen Austern. Am ersten Rennsonntag sind 8000 Zuschauer auf dem See, etwa 1000 davon sind geladene Gäste. Security-Männer achten darauf, dass kein Normalsterblicher die Grenze zum VIP-Bereich überschreitet.
Willkommen in St. Moritz: Die "White-Turf"-Rennen sind auch eine Zusammenkunft der Pelzträger und Superreichen.
Schon seit 1907 werden die hochkarätig besetzten Trab-, Galopp- und Skijöring-Rennen auf dem zugefrorenen St. Moritzer See ausgetragen.
Im vergangenen Jahr (im Bild ein diesjähriges Rennen) brach ein Pferd 150 Meter vor dem Ziel ins Eis ein. Ein weiteres Pferd stürzte schwer und musste eingeschläfert werden.
Die Eisschicht muss Pferde, Fahrzeuge und mehr als zehntausend Zuschauer tragen - dafür reichen angeblich 30 Zentimeter.
Trotz Tierschutzprotesten finden die Rennen auch dieses Jahr wieder statt. Jockey Maxim Pecheur (li.) gewann einen Wettbewerb am vergangenen Wochenende.
Die Verantwortlichen bei der Rennleitung sind in diesem Jahr ziemlich nervös, ob alles gutgeht. Nicht, weil sie einen Klassenkampf zwischen Superreichen und Normalos befürchten. Im vergangenen Winter hatte es einen tragischen Unfall gegeben. Bei einem Galopprennen am letzten Rennsonntag im Februar 2017 war der Wallach Holidayend 150 Meter vor dem Ziel ins Eis eingebrochen. Hinter ihm gingen zwei weitere Pferde zu Boden, der achtjährige Hengst Boomerang Bob verletzte sich dabei so schwer, dass er noch auf der Rennstrecke eingeschläfert werden musste. Jockey George Baker wurde verletzt ins Krankenhaus geflogen. Eine Untersuchung ergab, dass sich in der Eisdecke ein Riss gebildet hatte. Wasser hatte die Schneepiste von unten aufgeweicht.
Es war bereits der zweite tödliche Unfall in St. Moritz nach einem Unglück im Jahr 2009. Der Schweizer Tierschutzverband STS forderte ein Umdenken bei den Veranstaltern. Tina Gartmann, Präsidentin des Tierschutzvereins Graubünden, kritisierte in der regionalen Presse: "Man sollte sich künftig diesem Risiko nicht mehr aussetzen und keine Rennen auf dem gefrorenem See abhalten." Nach dem Unfall vor einem Jahr wurden die restlichen sieben Rennen der Saison abgesagt, eine Imagekatastrophe für die Veranstalter. Aber grundsätzlich stellte der Rennverein die Fortführung der traditionsreichen Veranstaltung nie in Frage. Allerdings wurden die Sicherheitsvorkehrungen deutlich verbessert, "damit so etwas auf keinen Fall noch mal passiert", sagt die Tierärztin Annina Widmer, seit 2017 Leiterin des Bereiches Racing beim Rennverein St. Moritz.
"Noch so ein Oligarch!", kommentiert ein Zuschauer auf den billigen Plätzen
Bevor die Eisfläche freigegeben wird, lässt die Rennleitung eine Drohne über den See fliegen, sie misst die Schneedichte und die Stärke der Eisschicht. Das Schweizer Schnee- und Lawinenforschungsinstitut SLF Davos hat eine Technik entwickelt, mit deren Hilfe Hohlräume unter dem Schnee entdeckt werden können. Ein Glaziologe berät die Veranstalter. 30 Zentimeter Eisschicht reichen aus, um Pferde, Fahrzeuge und mehr als zehntausend Zuschauer tragen zu können. Die Pistenpräparierungsmaschine, mit der die Rennbahn planiert wird, wiegt 7,5 Tonnen und ist sicherheitshalber mit seitlich anmontierten Schwimmkörpern ausgerüstet.
Nur einmal in den vergangenen 20 Jahren wurde ein Renntag abgesagt, weil es zu warm war. Anfang Februar 2018 ist das Eis auf dem St. Moritzersee 50 Zentimeter dick, darauf liegt ein Meter Schnee. Am Morgen des ersten White-Turf-Sonntags ist es minus 21 Grad kalt: Die Rennen sind nicht in Gefahr. Darüber freuen sich fast alle im Ort, es handelt sich ja um die wichtigste Großveranstaltung in der Region, wirtschaftlich, sportlich und gesellschaftlich. René Schnüriger, beim Rennverein St. Moritz zuständig für Sponsoring, spricht von einer "hohen Wertschöpfung für den Tourismus". Überkritische Tierschützer sollen daran möglichst nichts ändern.
Während Dynamites mit einem explosiven Antritt auf die Zielgerade einbiegt, donnert über den St. Moritzersee ein Privatjet in Richtung Flughafen Samedan. "Noch so ein Oligarch!", kommentiert ein Zuschauer auf den billigen Plätzen. In Samedan können auch im Winter kleine Jets starten und landen. Ohne diese bequeme Anbindung wären wahrscheinlich weniger Superreiche zu Gast in den Fünf-Sterne-Hotels und exklusiven Chalets - und die VIP-Tribünen beim White Turf wären wohl kaum so gut besetzt wie an diesem ersten Rennwochenende im Februar.
"Dem White Turf haftet seit einiger Zeit der Ruf an, ein Anlass für Champagner trinkende Pelzträger zu sein. Davon müssen wir wegkommen", sagte Annina Widmer, als sie im vergangenen Jahr das Amt der Rennsport-Verantwortlichen beim White Turf übernahm. Das ist augenscheinlich noch nicht richtig gelungen, und komplett verzichten kann man auf die Pelzfraktion sowieso nicht. Denn die Veranstaltung ist finanziell zu zwei Dritteln von ihren Sponsoren - einer Autofirma, einem Uhrenhersteller und einer Bank - abhängig. Anderswo werden die Umsätze hauptsächlich mit Wetten gemacht. Es gibt beim White Turf zwar ein Zelt, in dem auch das Fußvolk auf den Ausgang der Rennen bieten kann, aber Pferdewetten sind in der Schweiz limitiert. Die Wetteinsätze beliefen sich am ersten Rennsonntag auf 53 670 Franken, im Vergleich zu französischen und britischen Pferderennen ist das gar nichts.
Am Ende galoppiert Dynamites als Sieger des Scheich-Cups in einer Wolke aus Schneestaub über die Ziellinie. Der dünn bekleidete Jockey steigt zitternd ab. Die Pferdebesitzerin kassiert 38 500 Franken Preisgeld. Das ist nicht mal besonders viel. Beim Dubai World Cup beträgt die Preissumme sechs Millionen Dollar. Einige Mäntel in der VIP-Loge werden deutlich mehr wert sein als Dynamites Tagesverdienst.
"Aha!", sagt die Pelz-Oma jetzt und notiert die Startnummer des Siegers in ihr Programmheft. Von irgendwoher ist eine Sirene zu hören. Es wird doch nicht wieder was passiert sein? Nein, es ist nur der frettchenförmige Hund, dessen Fiepen in hochfrequentes Jaulen übergeht.