Indigene Völker:Unterwerfung, die nie aufhörte

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Die Nord-Sentinel-Insel: Hier leben abgeschottet die Sentinelesen. (Foto: dpa)

Der Missionar John Allen Chau wollte "die letzte Hochburg des Satans" erobern und wurde vom isolierten Volk der Sentinelesen getötet. Chaus Reise gemahnt an die verbrecherische Hybris vieler Zivilisatoren.

Kommentar von Arne Perras

Der Amerikaner John Allen Chau reiste in geheimer Mission übers Meer, er wollte "die letzte Hochburg des Satans" erobern. Mit der Bibel in der Hand landete er an einem Strand im Indischen Ozean, um das isolierte Volk der Sentinelesen mit dem Evangelium zu beglücken. Dafür zahlte der 26-jährige Missionar mit seinem Leben. Alles deutet darauf hin, dass ihn die Bewohner von North Sentinel Island mit Pfeilen getötet und seine Leiche im Sand vergraben haben. Die Causa Chau und das Schicksal der Sentinelesen - sie erregen weltweit Aufsehen, es war eine Begegnung der bizarren Art.

Die indische Polizei muss sich nun mit einem der seltsamsten Kriminalfälle des 21. Jahrhunderts beschäftigen, die Ermittlungen werden viele Akten füllen. Aber ein Verdacht drängt sich schon aus der Ferne auf: Besessen war in diesem Drama mutmaßlich nur einer.

Juristisch ist der Fall so faszinierend wie vertrackt, denn es sind zwei Welten aufeinandergeprallt, die per Gesetz nicht kollidieren durften. Auf der Insel, die zu den Andamanen gehört, lebt eines der letzten sogenannten unkontaktierten Völker - vielleicht 100 oder 150 Menschen, die in völliger Abschottung den Weg ins 21. Jahrhundert nahmen. Die Sentinelesen sind Jäger und Sammler, aus Sicht der globalisierten Welt wirken sie wie Menschen, die irgendwann den Zug verpasst haben. Wer weiß, ob das Glück oder Unglück bedeutet? Tatsächlich ist kaum etwas über sie bekannt, kein Außenstehender versteht ihre Sprache.

Wer ist hier Opfer, wer Täter?

Indien schirmt die Insel ab, was Chau nicht schreckte. Er ließ sich von Fischern an der Küstenwache vorbeischmuggeln, getrieben von der Idee, dass die Bewohner nichts dringlicher bräuchten als die Bibel. Man kann nur Mutmaßungen anstellen, wie die Annäherung verstanden wurde. Vielleicht betrachteten die Sentinelesen den Vorstoß als Hausfriedensbruch, vielleicht sogar als Kriegserklärung. Wer ist hier Opfer, wer Täter? Womöglich ist dem Fall juristisch gar nicht beizukommen, sicher aber wirft die Grenzüberschreitung Chaus ein Schlaglicht auf das Schicksal indigener Völker. Sie kämpfen vielerorts ums Überleben.

Die traurige Lehre aus der Geschichte lautet: Ureinwohner wurden häufig Opfer, weil sie sich gegen den Drang der Eroberer nicht wehren konnten. Landraub hat viele Facetten, er verlief über die Jahrtausende in zahlreichen Phasen. Zumindest aus den jüngsten Jahrhunderten weiß man, dass sich die Eroberer zunehmend bemühten, ein vermeintlich zivilisatorisches Gewand überzuwerfen, um Grausamkeiten und Unrecht zu überdecken. In seinem Gedicht "The White Man's Burden" hat der Brite Rudyard Kipling die "Bürde" der Imperialisten in sieben Strophen gefasst, der weiße Mann stünde vor "verschreckten wilden Leuten", schrieb er 1899, vor "neu gefangenen verdrossenen Völkern, halb Teufel und halb Kind".

Bei kolonialen Vorstößen paarte sich Hochmut mit dem Willen zur Herrschaft. Missionare waren nicht immer Verbündete imperialer Mächte. Die Verbreitung von Religion nutzte aber jenen, die militärische und kulturelle Unterwerfung einforderten. Und erst das erzieherisch-missionarische Sendungsbewusstsein des 19. Jahrhunderts lieferte den ideologischen Überbau, um Kontrolle als globales zivilisatorisches Werk zu rechtfertigen.

Die Insel erschien wohl zu unbedeutend, um sie zu zivilisieren

So empfahl der britische Offizier Maurice Vidal Portman, man müsse die Wilden auf den Andamanen zähmen, um sie dem Empire gefügig zu machen. Er verwaltete die Inseln als Strafkolonie - mit verheerenden Folgen für die Einheimischen. Ihre Gemeinschaften zerbrachen, Krankheiten rafften sie dahin. Nur die Sentinelesen haben sich dem zerstörerischen Sog entzogen. Portman stufte sie nach missglückten Expeditionen als "feindseliges Volk" ein, doch die Insel erschien wohl zu unbedeutend, um sie zu zivilisieren.

Unterdessen hatte sich die Spur imperialer Landnahme durch die Kontinente gezogen, sie hinterließ verwüstete Seelen, Traumata, die niemand linderte. Mit der Dekolonisierung gab es die Chance zur Wende, doch die Entrechtung indigener Völker - weltweit stellen sie noch fünf Prozent der Bevölkerung - hörte nie auf. Am Amazonas wächst die Not durch den ultra-rechten brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro, der einmal bedauert hat, die brasilianische Kavallerie sei nicht so effizient wie die Amerikaner bei der Vernichtung der Indianer gewesen.

Arm kämpft gegen arm, während sich reiche Cliquen die Taschen füllen

Goldsucher, Holzfäller, Siedler - sie fressen sich durch den Regenwald und zerstören, was Ureinwohner brauchen. Der Landraub trug häufig Züge eines Völkermords. Die Vereinten Nationen haben Versuche unternommen, das Überleben indigener Völker durch Rechtsnormen zu sichern, doch in der Praxis scheitert dies an der Gier von Rohstoffjägern, gepaart mit der Unfähigkeit korrupter Staaten. Auch die wachsende Weltbevölkerung macht es schwer, Räume für Ureinwohner zu sichern. Arm kämpft gegen arm, während sich reiche Cliquen die Taschen füllen.

Insofern ist es vernünftig, dass Indien verfügt hat, die Sentinelesen in Frieden zu lassen. Sie haben deutlich gemacht, dass sie Besuch nicht schätzen, deshalb schottet der Staat sie ab. Man kann nur hoffen, dass das so bleibt. Denn jene Völker, die sich auf den Andamanen - eher unfreiwillig - der Außenwelt öffneten, haben schwer gelitten. Und es gibt viele Beispiele, wo es Ureinwohnern ähnlich erging.

Der Amerikaner Chau mag in friedlicher Absicht gekommen sein. Doch er riskierte neben dem eigenen Leben die Zukunft jener Menschen, die er missionieren wollte. Sie haben keine Immunität gegen eingeschleppte Keime. Dass die evangelikale Kirche, für die Chau unterwegs war, solche Gefahren unter Verweis auf Antibiotika zu relativieren sucht, ist abenteuerlich verbohrt. Letztlich spiegelt sich in der Mission Chaus jene religiös verpackte zivilisatorische Hybris, durch die so viele Völker kaputt entwickelt wurden, im Namen einer vermeintlich besseren Welt.

© SZ vom 01.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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:Wer sind die Sentinelesen?

Ein Amerikaner will ein Inselvolk im Indischen Ozean mit der Bibel beglücken, er stirbt durch die Pfeile der Eingeborenen. Seit Tausenden Jahren leben diese völlig abgeschottet - aus gutem Grund.

Von Arne Perras

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