Seniorenheim für Schwule und Lesben:Regenbogenhaus für Rentner

Lesezeit: 5 min

Alt werden in einer Umgebung, in der man sich nicht verstecken muss: In Berlin hat Europas erstes Mehrgenerationenhaus für Schwule und Lesben seine Pforten geöffnet. Die Wohnungen sind nicht ganz billig, aber sehr begehrt. Sogar junge Leute ziehen in den "Lebensort Vielfalt" ein.

Thorsten Schmitz, Berlin

Nicolaus Motz ist Maler von Beruf, und an diesem Nachmittag hat er sich fein gemacht. Er trägt einen hellbraunen Anzug, dazu ein himmelblaues Hemd, an den Füßen glänzen feine Lederslipper. Sein Ziel: einen guten Eindruck hinterlassen - und die Chancen maximieren, an eine Wohnung in der Charlottenburger Niebuhrstraße 59/60 zu gelangen. Er zögert noch einen Moment, bevor er das frisch getünchte Wohngebäude betritt, in dem gerade Berlins schwuler Bürgermeister Klaus Wowereit Hände schüttelt. An einem Stand bestellt sich Nicolaus Motz einen Kaffee, schaut sich um, atmet tief durch, konzentriert sich auf die Chancen.

63 Jahre ist er alt und wohnt eine halbe Stunde entfernt von der Niebuhrstraße, in einem Mehrfamilienhaus in Tempelhof. Der Kontakt zu den Nachbarn dort? "Ist gut, aber niemand von denen weiß, dass ich schwul bin", sagt Motz. Seinen Traum hat er schnell formuliert: Alt zu werden in einer Umgebung, in der er sich nicht verstecken muss. Seinen Traum verwirklichen möchte er am liebsten in der Niebuhrstraße - hier sind alle schwul oder lesbisch.

Und wenn sie es nicht sind, wie Doris Mehlberg zum Beispiel, die lange gezögert hat einzuziehen, da das "zunächst eine fremde Welt für mich war", verlieren sie schnell die Scheu vor den Nachbarn: "Ich find's jetzt toll, hier zu wohnen", sagt Mehlberg, die 64 Jahre alte Psychologin und Familientherapeutin. "Ich bin ja hierher gekommen wie die Jungfrau zum Kinde." Dass die Mieten nicht gerade billig sind, stört Mehlberg nicht: "Die Gemeinschaft ist ja Teil der Miete, so sehe ich das." Als sie eine Säge benötigte, gab ihr der Nachbar eine, und auch Tipps, sein Beruf ist Tischler.

Am Wochenende hat der "Lebensort Vielfalt" seine Pforten offiziell geöffnet. Es ist Europas erstes Mehrgenerationenhaus für Schwule und Lesben, die das Pensionsalter erreicht haben - und für Schwule und Lesben, die noch weit davon entfernt sind, es aber inspirierend finden, mit homosexuellen Rentnern unter einem Dach zu leben. Im zweiten Stock wurde sogar eine WG für demenzkranke Homosexuelle eingerichtet. Sie verfügen über einen Pflegedienst, der 24 Stunden täglich erreichbar ist.

Sechs Millionen Euro hat die Berliner Schwulenberatung das Haus in der Niebuhrstraße und dessen Renovierung gekostet. In den Fluren strahlt grasgrüner Linoleumboden (manche hätten lieber einen bordeauxroten gehabt), im Erdgeschoss gibt es ein Restaurant, im Hof einen großen Garten, und eine ganze Etage gehört der Schwulenberatung selbst, die vor 32 Jahren gegründet wurde - als die Post sich noch weigerte, den angeblich anrüchigen Begriff Schwulenberatung ins Telefonbuch aufzunehmen.

Egal, in welcher Ecke sich Bernd Gaiser in seiner Maisonette-Wohnung aufhält: Von überall sieht er den Himmel. Der Blick ist die Entschädigung für seinen letzten Umzug. Bis vor kurzem hat der 67 Jahre alte Buchhändler noch mit zwei anderen schwulen Männern in einer 200-Quadratmeter-WG gewohnt, bis die beiden aufs Land zogen. Jetzt lebt er für 520 Euro warm auf 42 Quadratmetern. "Da musste ich mich umorientieren", sagt Bernd Gaiser auf seinem Balkon und lacht.

Im Laufe seines Lebens hat er 50 Kisten mit Literatur angesammelt, ins Seniorenheim mitnehmen konnte er aber nur seinen Apple-PC und die absoluten Lieblingsbücher, Romane von John Updike, Marcel Proust und Max Frisch, Fotobände von Man Ray. Gaiser war Buchhändler bei Kiepert, einer stadtbekannten Buchhandlung, die vor zehn Jahren pleiteging. Als er einen neuen Job suchte, beschied man ihm auf dem Arbeitsamt: "Mit 58 Jahren sind Sie nicht mehr vermittelbar." Das plötzliche Ausscheiden aus dem Berufsalltag, sagt Gaiser, "war ein Schock für mich".

So begann er, sich um ältere Schwule zu kümmern, die alleine sind oder in Pflegeheimen wohnen - und sich nie getraut haben, offen schwul zu leben. Zu sehr haben Homosexuelle aus dieser Generation den Paragrafen 175 verinnerlicht, der bis 1994 sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte. "Es ist ein Elend, wie einsam diese Männer sind", sagt Gaiser. "Sie haben keine Familien, keine Freunde . . ." Dies habe ihm gezeigt: "Ich möchte nicht alleine sein, wenn ich so alt bin." Einen Partner hat er nicht, und als er hörte, dass ein Seniorenheim für Schwule eröffnet wird, hat er sich gleich um einen Platz beworben. Er hatte Glück. 200 Menschen stehen derzeit auf der Warteliste im Regenbogenhaus für Rentner.

Drei Millionen Euro hat die Deutsche Klassenlotterie für das Projekt gespendet, den Rest haben Privatleute und Gruppen wie die "Rainbowgruppe der Deutschen Bank" dazugegeben. 33 Menschen leben seit Anfang Mai in 24 Wohnungen, die meisten von ihnen sind schwul und über 55. Es gab einen Run auf die Wohnungen, obwohl sie im Vergleich mit durchschnittlichen Mieten in Berlin nicht günstig sind. Es gibt Maisonette-Apartments mit Blick über ganz Berlin und Zwei-Zimmer-Wohnungen für Menschen wie Gottfried Stecher, der 84 Jahre alt ist. Über jüngere Mitbewohner macht er sich lustig, wenn sie über Müdigkeit klagen: "Ich nehme es mit allen auf. Ich habe ständig Angst, etwas zu verpassen."

Die Vorstellung, seinen Lebensabend unter einem Dach mit Gleichgesinnten verbringen zu können, genießt er. "Einerseits!" sagt er, und plötzlich weicht die Freude aus dem Gesicht. Er steht auf seinem Balkon, hängt hochkonzentriert die Wäsche in einer Akkuratesse auf, die er von seinen Eltern gelernt habe, "immer schön alles Falte auf Falte, Ecke auf Ecke". Auf das Andererseits kommt er schnell zu sprechen: "Es ist nicht alles Gold, was glänzt." Schon bei den Vorbereitungen für den Umzug habe er die Mitarbeiter der Schwulenberatung daran erinnert: "Ich brauche einen höheren Toilettensitz, ich habe zwei künstliche Hüften, ich bin ein Ersatzteillager, ich kann mich nicht so tief herunterknien." Beim Einzug dann die Ernüchterung, als er das Badezimmer in Augenschein nahm: Der höhere Toilettensitz fehlt!

Wenn man ihn nicht unterbricht, kann Gottfried Stecher stundenlang Details ausbreiten über seine Kindheit in Merseburg ("Jeden Sonntag sind wir Blumen pflücken gegangen!"), über seine elf Jahre in der Schokoladenfabrik Sarotti ("Da habe ich mich sehr wohl gefühlt, da waren alle schwul") und über seine Großmutter ("Die hat sich die Haare mit Ruß schwarz gefärbt").

Mit dreißig Jahren hatte er sein Coming-out, der Vater wollte ihn damals zum Arzt schicken. Doch Stecher weigerte sich - und lebte sein Schwulsein offen aus. Wenn man ihn fragt, ob er denn keinen Partner habe, reißt er die blauen Augen auf und sagt: "Neee! Ich war immer nur mit verheirateten Männern zusammen. Ich war Geliebter mein ganzes Leben lang."

Bis heute bessert er seine Rente auf und arbeitet als Statist in der Deutschen Oper, seit 40 Jahren schon steht er auf der Bühne. Auf alles findet er eine Antwort, nur eines erscheint ihm rätselhaft: "Ich finde es phantastisch, hier mit jungen Leuten unter einem Dach zu wohnen, da kann ich mein Wissen ausbreiten und belehren. Aber warum die mit uns Alten wohnen wollen? Das weiß ich nicht!"

Robert Franke ist gerade erst eingezogen, in seinem Ein-Zimmer-Apartment im fünften Stock stehen nur ein paar Kisten, eine Waschmaschine und ein Longboard. Ein Longboard? Robert Franke ist 31 Jahre alt, er ist der Jüngste in Europas erstem Seniorenheim für Homosexuelle. Frank arbeitet in einem Yogastudio gleich um die Ecke. Bevor er nach Charlottenburg gezogen ist, hat er in einem besetzten Haus gewohnt, mit 25 anderen Menschen, in Prenzlauer Berg. Eines Tages sah er ein Foto von Gottfried Stecher, die Schwulenberatung wirbt mit ihm. Das hat Robert Franke neugierig gemacht. "Ich dachte erst, das Haus ist nur für ältere Semester, aber als ich anrief, haben die mich gleich eingeladen."

Er muss sich jetzt eine Küche zulegen, Schränke, einen Kühlschrank, aber er hat es nicht eilig. Froh ist er, jetzt viel ältere Nachbarn zu haben: "Das Tolle ist: Für jedes Problem findest du hier eine Lösung - plus eine Portion Lebensweisheit dazu!"

Nicolaus Motz, der Maler, hat sich am Wochenende auf die Warteliste setzen lassen. Er ist jetzt die Nummer 201. Vielleicht kommt er aber doch noch schneller an eine Wohnung. Ein 75 Jahre alter Rentner, der die feste Zusage für eine Wohnung hatte, wird jetzt doch nicht in das Mehrgenerationenhaus ziehen - weil er sich vor kurzem verliebt hat und mit seinem Partner in eine größere Wohnung ziehen wird.

© SZ vom 11.06.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: