Leer (Ostfriesland):Freispruch für Arzt im Prozess um defekte Prothesen

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Ein Hinweisschild zum Krankenhaus steht vor dem Klinikum Leer. (Foto: Sina Schuldt/dpa/archivbild)

Mehr als sieben Jahre nach Operationen mit defekten Bandscheiben-Prothesen hat ein Gericht in Ostfriesland den angeklagten ehemaligen Chef-Chirurgen...

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Leer (dpa/lni) - Mehr als sieben Jahre nach Operationen mit defekten Bandscheiben-Prothesen hat ein Gericht in Ostfriesland den angeklagten ehemaligen Chef-Chirurgen freigesprochen. Das Schöffengericht des Amtsgerichtes Leer sah den Vorwurf der Körperverletzung in 52 Fällen gegen den 57 Jahre alten Mediziner als nicht erwiesen an, wie ein Gerichtssprecher am Dienstag sagte. Die Verteidigung hatte zuvor einen Freispruch gefordert. Die Staatsanwaltschaft bemängelte dagegen, dass nur wenige Geschädigte in dem Verfahren von dem Gericht gehört wurden und kündigte bereits im Plädoyer an, ein Rechtsmittel einlegen zu wollen. (Az 607 Ls 310 Js 31127/15 (113/17))

Die Staatsanwaltschaft Aurich hatte dem früheren Leiter der Wirbelsäulenchirurgie am Klinikum Leer vorgeworfen, zwischen Dezember 2010 und März 2014 Patienten künstliche Bandscheiben eines bestimmten Herstellers aus Plastik eingesetzt zu haben, ohne die Patienten vorher ausreichend über genau dieses Implantat aufgeklärt zu haben. Stattdessen sollte vor den Operationen auf den Aufklärungsbögen der Einsatz von Prothesen aus Titan aufgezeigt worden sein.

Durch das andere verwendete Material habe keine „wirksame Einwilligung“ zu den Operationen vorgelegen, begründete die Staatsanwaltschaft den Vorwurf der Körperverletzung. Die Fälle wurden überhaupt bekannt, da viele der eingesetzten Kunststoff-Implantate sich später als schadhaft erwiesen und im Körper der Patienten verrutscht oder zerbröselt waren. Zahlreiche Patienten litten an den Folgen und mussten daraufhin erneut operiert werden. Die Geschädigten hatten jahrelang auf den Prozess gewartet. Aus Sicht der Betroffenen endete das Verfahren nun mit großer Ernüchterung.

Bei der Urteilsbegründung folgte das Gericht weitgehend der Einschätzung eines Sachverständigen, der bereits zu Prozessbeginn gehört wurde. Demnach seien die von den Patienten gegebenen, vorliegenden Einwilligungen für das Einsetzen der Prothesen wirksam gewesen. Welcher Typ von Implantaten, ob Kunststoff oder Metall, bei den Operationen verwendet werde, sei laut dem Gericht nicht maßgeblich für die Einwilligung gewesen, sagte der Sprecher. Zudem sei für den Arzt bei den Operationen auch nicht ersichtlich gewesen, dass das eine Implantat schlechter sei als das andere.

Das Gericht ließ auch keine Zweifel an der Expertise des Gutachters erkennen, sagte der Sprecher. Die Anhörung eines weiteren Experten sei daher aus Sicht des Gerichts nicht notwendig gewesen.

Der Sachverständige, ein Arzt aus Göttingen, hatte bei seiner Aussage erklärt, dass es bei der Konstruktions- und Funktionsweise der verschiedenen Implantate und auch bei den operativen Eingriffen keine nennenswerten Unterschiede gebe. Alle hätten demnach das Ziel, die Beweglichkeit der Wirbelsäule zu gewährleisten - und darauf habe auch die Einwilligung der Patienten gezielt.

Die Staatsanwaltschaft kündigte noch im Plädoyer an, ein Rechtsmittel gegen das Urteil einlegen zu wollen. Dies begrüßte auch der Anwalt der Nebenkläger. Die Staatsanwältin bemängelte, dass das Gericht die Beweisaufnahme abbrach und nur wenige Geschädigte anhörte. Insgesamt hatten seit Prozessbeginn Anfang Juni nur etwa ein halbes Dutzend Zeugen ausgesagt. Auf die übrigen Anhörungen verzichteten der Richter und die Schöffen nun. Da nicht alle Zeugen gehört wurden und ein Freispruch sich abzeichnete, forderte die Anklage kein Gesamtstrafmaß.

Die Verteidigung hatte mit Blick auf die Ausführungen des Gutachters auf Freispruch plädiert. Der Anwalt des Mediziners sagte laut dem Gerichtssprecher, dass sein Mandant das Opfer des Verfahrens sei. Dieser sei dadurch in seiner Berufsausübung eingeschränkt, hätte finanzielle Folgen zu tragen und werde mit Prozessen überzogen. Der ehemalige Chef-Arzt hatte sich in dem Prozess selbst nicht geäußert.

Dem Gerichtssprecher zufolge wird das Verfahren voraussichtlich in Berufung gehen. Darüber entscheide das Auricher Landgericht. Mit einer Neuauflage sei dann frühestens im Herbst zu rechnen, hieß es.

Am Landgericht in Aurich ist auch ein weiteres Verfahren in dem Prothesen-Skandal gegen den Mann anhängig. Dort muss sich der Arzt verantworten, weil er für den bevorzugten Einsatz von Implantaten eines Herstellers unerlaubt Geld kassiert haben soll. In dem Prozess, der zuletzt mehrmals platzte, ging es zuletzt in insgesamt 74 Fällen um Vorteilsannahme und Bestechlichkeit in besonders schwerem Fall.

© dpa-infocom, dpa:210720-99-450445/3

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