London:Rechts stehen, links stehen

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Was wäre die Fortbewegung des modernen Menschen ohne funktionierende Rolltreppen? Der Londoner U-Bahnhof Holborn im Jahr 1937 (Foto: imago stock&people)

Ein gewagtes Experiment? Oder doch ein genialer Einfall? Die Transportbehörde in London verfügt: Auf Rolltreppen in der U-Bahn soll nicht mehr gelaufen werden.

Von Christian Zaschke, London

Abgesehen davon, dass man sich besonders auf Reisen von niemandem sagen lassen sollte, was man zu tun und zu lassen hat, gilt Folgendes: In London muss man unbedingt die Westminster Bridge von Big Ben kommend überqueren, dann rechts an der Themse entlanglaufen, bis kurz vor der nächsten Brücke diese Kaffeebude auftaucht. Es gibt dort einen irre guten Espresso und den Blick auf die Houses of Parliament kostenlos dazu. Ferner muss man mindestens drei Stunden durch Hampstead Heath spazieren, den schönsten Park der Stadt. Und überhaupt spazieren: London ist zwar riesig, aber am schönsten lässt es sich zu Fuß erkunden. Dauert halt. Aber macht ja nichts. Was man in London hingegen nicht tut: Man geht nicht zu Madame Tussauds. Man kauft nicht auf dem Camden Market ein. In die schwarzen Taxis steigt man nicht einfach ein, sondern nennt dem Fahrer zunächst durchs Fenster das Ziel. Dort angekommen, steigt man erst aus und zahlt durchs Fenster. Macht kaum ein Tourist, weshalb man sehr einheimisch wirkt, wenn man so Taxi fährt.

Größte Demütigung: "Excuse me"

Diese Regeln sind wichtig. Die wichtigste aller Londoner Regeln aber ist eine, die man auch aus anderen Großstädten kennt: Auf der Rolltreppe in der U-Bahn wird rechts gestanden und links gelaufen. Wer links auf der Rolltreppe steht, wird hinter sich rasch einen Chor von Räusperern hören und schließlich unter Umständen, größte Demütigung, direkt angesprochen. Es wird nur ein schlichtes "Excuse me" sein, aber diese zwei Wörter sind in Wahrheit ein brühwürfelartiges Konzentrat, in dem ein Vortrag über die Errungenschaften der Zivilisation steckt, über Anstand und Etikette, und, ja, über Aufstieg und Fall des Empires.

Das alles muss man wissen, um zu verstehen, welch gewagtes Experiment die Londoner Transportbehörde gerade aufgelegt hat. Seit Beginn dieser Woche bittet sie Passagiere in der Station Holborn, doch bitte auf der Rolltreppe einfach zu stehen, auf beiden Seiten. Für viele Londoner ist das ein Kulturschock. Sie halten ihre Transportbehörde jetzt für mindestens exzentrisch, eher aber für absolut durchgeknallt. Ein halbes Jahr lang soll das Experiment laufen, zunächst auf zwei der Rolltreppen in der Station.

Die Behörde hat festgestellt, dass besonders auf langen Rolltreppen nur eine Minderheit laufen will. Deshalb bilden sich Schlangen, und die Kapazität der Rolltreppen wird nicht vollständig genutzt, weil die linke Seite größtenteils frei bleibt. Ein erster, zweiwöchiger Testlauf im vergangenen Jahr hatte ergeben, dass letztlich alle schneller vorankommen, wenn alle gemeinsam stehen.

Die Tiefe, die dieser Erkenntnis innewohnt, passt gut zur Londoner U-Bahn, die größtenteils in der Nähe des Erdmittelpunktes operiert. Philosophisch geschulte unter den Passagieren haben allerdings bereits den doppelten Boden des Arguments entdeckt. Mag ja sein, dass es tatsächlich schneller geht, wenn alle stehen. Aber wie schnell ginge es erst, wenn alle liefen?

© SZ vom 20.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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