Kunst:Neue Turbulenzen: Wie geht es weiter mit der documenta?

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Besucher der documenta fifteen in Kassel sitzen auf den Stufen des Fridericianums. (Foto: Uwe Zucchi/dpa)

Auch 2023 gab es Wirbel um die documenta. Nach neuen Antisemitismus-Vorwürfen steht die Weltkunstausstellung in Kassel vor vielen Fragen und Herausforderungen.

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Kassel (dpa/lhe) - Die documenta hat auch 2023 für Schlagzeilen gesorgt. Nach dem Antisemitismus-Eklat auf der 15. Ausgabe der Weltkunstausstellung in Kassel in 2022 ging es mit dem Rücktritt der Findungskommission für die Künstlerische Leitung der documenta 16 turbulent weiter. Die Schau steht vor großen Herausforderungen. „Unser Ziel muss es sein, zu zeigen, dass es in Deutschland weiterhin möglich ist, kritische Kunst zu präsentieren“, sagt Geschäftsführer Andreas Hoffmann. „Wir müssen die Kunstfreiheit sicherstellen und gleichzeitig klar machen, dass die documenta in einem Land mit einer Geschichte stattfindet - in dem Land, das die Shoah erfunden hat mit der grausamen Ermordung von sechs Millionen Juden.“

Es müsse in dieser in der Geschichte der documenta einzigartigen Situation vor allem darum gehen, Vertrauen zurückzugewinnen. In der Rücktrittsbegründung der Findungskommission würden Zweifel daran deutlich, ob in Deutschland der Rahmen aktuell ausreichend gegeben sei, kritische Kunst zu präsentieren. „Offensichtlich gibt es den Vorbehalt der Zensur beziehungsweise der verunmöglichten Debatte“, so Hoffmann.

Bereits die documenta fifteen war von einem Antisemitismus-Eklat überschattet worden. Nach erneuten Antisemitismus-Vorwürfen gegen ein Mitglied der Findungskommission für die Künstlerische Leitung der documenta 16 war Mitte November zunächst dieses Mitglied und später die gesamte Findungskommission zurückgetreten. Das sechsköpfige Gremium sollte bis Ende 2023 oder Anfang 2024 einen Kurator, eine Kuratorin oder ein Kollektiv für die kommende Ausgabe der documenta im Jahr 2027 vorschlagen.

Der Rücktritt der Findungskommission müsse unter dem unmittelbaren Eindruck der Terrorakte der Hamas am 7. Oktober 2023 betrachtet werden, sagt Hoffmann. Durch die gesamtgesellschaftliche Lage habe sich die herausfordernde Situation für die documenta noch verschärft. „Deshalb ist es richtig zu sagen, dass wir einen Moment der Ruhe, des Innehaltens brauchen - einen Neustart, um zu schauen, wo wir stehen und wie wir die Dinge auf Spur bringen können.“ Der Findungsprozess soll seiner Ansicht nach so lange ausgesetzt werden, bis die Strukturen der documenta angepasst sind.

Grundlage dafür soll eine kürzlich veröffentlichte externe Untersuchung sein, die der documenta-Aufsichtsrat zur Aufarbeitung der Antisemitismus-Vorfälle im vergangenen Jahr in Auftrag gegeben hatte. Die wichtigsten Empfehlungen, über welche die Gremien der documenta nun abstimmen müssen: die Beibehaltung der Findungskommission mit Anpassungen sowie die Implementierung zweier Verhaltenskodexe, die den Schutz der Menschenwürde sowie der Kunstfreiheit gewährleisten sollen. Der Aufsichtsrat als Hauptgremium für die Überwachung soll betont und zugleich von neun auf fünf Mitglieder verkleinert werden. Der Bund soll in dem Gremium einen stimmberechtigten Sitz erhalten, Gesellschafter soll er aber nicht werden. Die Aufgaben von Geschäftsführung und Künstlerischer Leitung sollen geklärt und ein wissenschaftlicher Beirat eingeführt werden.

Empfehlungen, die Zustimmung erfahren: „Ich glaube, dass sie im Wesentlichen gut sind“, sagt etwa der Kasseler Architekturprofessor Philipp Oswalt. Der ehemalige Leiter der Stiftung Bauhaus Dessau war auch an der Gründung des documenta-Instituts beteiligt und beobachtet die documenta als Forscher. Die Vorschläge sind seiner Ansicht nach geeignet, eine Vertrauensbasis herzustellen, „weil es sinnvolle Regeln sind, die eine Reihe von Problemen, die in der Vergangenheit aufgetreten sind, vorbauen oder sie ausschließen“. Sie versuchten, klare Verantwortlichkeit herzustellen und ein sinnvolles Gleichgewicht zwischen dem Schutz der Menschenwürde und der künstlerischen Freiheit zu finden.

Allerdings bleibt Oswalt in den Empfehlungen die Rolle der Kulturpolitik im Aufsichtsrat zu stark, der etwa den wissenschaftlichen Beirat auswählen soll. „Da gibt es andere Modelle. Und ich glaube, dass die Krise der documenta auch viel mit Fehlern der politisch Verantwortlichen zu tun hat“, sagt der Experte.

In der Debatte um die documenta sieht er auch eine Chance. Es würden grundsätzliche Fragen verhandelt, die sehr viele Menschen bewegten. „Insofern sind Krisensituationen wie diese auch immer produktiv, weil sie zu Neuerungen führen.“ Neuerungen, die ebenso hochnotwendig seien wie die Konflikte um die documenta, um gesellschaftliche Fragen zu klären. „Wenn man das verantwortungsvoll tut, bin ich guten Gewissens, dass man auch wieder in ein ruhigeres Fahrwasser kommt.“

Geschäftsführer Hoffmann betont mit Blick auf die kommende documenta: „Eins ist klar: Es darf und wird keine Vorabprüfung der Kunst durch die Geschäftsführung oder Gremien geben. Bei Beiträgen, die sich als antisemitisch herausstellen oder andere Inhalte zeigen, die in den Bereich der gruppenspezifischen Menschenfeindlichkeit weisen, haben wir aber die Möglichkeit des unmittelbaren Dialogs, der Kontextualisierung und - aber das nur im Rahmen der strafrechtlichen Relevanz - Werke im Extremfall auch gegen den Willen der Künstlerischen Leitung aus der Ausstellung zu nehmen.“

Die documenta müsse in Anbetracht solcher Inhalte bereit sein, den Diskurs aktiv mitzugestalten und Diskursräume zu schaffen. Sie müsse die verlorene Ambiguitätstoleranz - also die Fähigkeit, Mehrdeutigkeit zu ertragen - wiederherstellen, ohne ihr klares Bekenntnis gegen Antisemitismus und gegen jede Form gruppenspezifischer Menschenfeindlichkeit zu verleugnen. „Das ist ein Spagat und aktuell eine große Herausforderung.“

Ob die documenta 16 wie geplant am 12. Juni 2027 beginnen kann, hält Hoffmann weiter offen. „Das Problem im vergangenen Jahr war, dass man mit einem alten Betriebssystem einen neuen Prozess gestartet hat. Wir sollten uns jetzt nicht in Unruhe begeben“, sagt er. Wann die documenta 16 stattfindet, habe nicht die höchste Priorität, „sondern: dass sie gelingt, dass sie mutig und relevant bleibt.“

Die documenta gilt neben der Biennale in Venedig als wichtigste Ausstellung für Gegenwartskunst. Traditionell findet sie alle fünf Jahre statt.

© dpa-infocom, dpa:231230-99-444325/5

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