Kolumbien:Vier Kinder allein im Dschungel

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Die Kinder verschwanden nach einem Flugzeugabsturz. Es dauerte Wochen, bis überhaupt das Wrack der Cessna aufgespürt wurde. (Foto: Colombia's Armed Forces Press Office/AP)

Seit einem Monat sind vier Geschwister im kolumbianischen Amazonasgebiet verschollen, das jüngste nicht mal ein Jahr alt. Können sie überlebt haben?

Von Christoph Gurk, Buenos Aires

Die große Frage, die derzeit ganz Kolumbien beschäftigt, ist: Können vier Geschwister, das jüngste kein Jahr alt, das älteste gerade einmal 13, können diese Kinder also vollkommen auf sich allein gestellt über Wochen im tiefsten Amazonas-Dschungel überleben?

Die Hoffnung ist: Ja. Und darum heißt auch die Spezialmission, die nach den Vermissten suchen soll, genau so: Operation Hoffnung. Doch nun ist schon ein Monat vergangen, seitdem die Kinder nach einem Flugzeugabsturz verschollen sind. Und längst kämpfen die Suchtrupps nicht mehr allein nur damit, die Geschwister lebend wiederzufinden, sondern auch dafür, ebenjene Hoffnung nicht zu verlieren, die ihrer Operation den Namen gegeben hat. Er glaube zwar hundertprozentig daran, dass ihre Suche Erfolg haben werde, sagte General Pedro Sánchez, der das Spezialeinsatzkommando leitet. Doch es gebe auch große Schwierigkeiten: "Es ist nicht wie die Suche nach einer Nadel im Heuhaufen. Es ist eher so wie die Suche nach einem winzigen Floh in einem riesigen Teppich, der sich ständig in unvorhersehbare Richtungen bewegt."

Am 1. Mai waren die Kinder zusammen mit ihrer Mutter in eine Cessna 206 gestiegen, ein kleines, einmotoriges Flugzeug, das sie in die nächstgrößere Stadt bringen sollte. Es war noch früher Morgen, als die Maschine abhob, ihre Räder rumpelten über die Startbahn des Flughafens von Araracuara, kaum mehr als eine Schotterpiste, umgeben von endlosem Wald. Die kolumbianische Amazonasregion ist immer noch weitgehend unerschlossen, keine Straßen, keine Wege. Was bleibt, sind Boote oder Flugzeuge, immer wieder aber stürzen diese ab, zu schwierig die Bedingungen, zu alt die Maschinen.

Eine Babyflasche, eine Windel - im Wald fanden sich Spuren

Auch die Cessna 206, in der die vier Geschwister und ihre Mutter unterwegs waren, hatte schon Jahrzehnte in der Luft und wohl auch mindestens einen schweren Unfall hinter sich. Kurz nach dem Start setzte der Kapitän dann auch einen ersten Notruf ab, flog weiter, nur um wenig später noch einmal nach Hilfe zu funken. "Mayday, Mayday! Das Triebwerk hat mich wieder im Stich gelassen!" Die Flugsicherung verfolgte, wie das Flugzeug eine Rechtskurve flog. Dann verschwand es vom Radar.

Ein Suchtrupp wurde losgeschickt, es dauerte aber rund zwei Wochen, bis überhaupt das Wrack aufgespürt wurde, so abgelegen und unübersichtlich ist das Gebiet. Doch während man am Unfallort die Leichen der drei erwachsenen Insassen fand, unter ihnen auch die Mutter der vier Geschwister, fehlte von den Kindern jede Spur. Hatten sie überlebt?

Dafür sprach, dass sich bald Spuren fanden im Wald: eine Babyflasche, Windeln, eine kleine Schere, verzehrte Früchte und sogar ein aus Stöcken und Blättern gebauter Unterschlupf. Anfang dieser Woche stieß man dann auch auf Fußspuren, die wohl zu dem ältesten Mädchen gehören.

Längst ist die Suche in Kolumbien zu einem Medienereignis geworden. Jeden Tag gibt neue Meldungen in den Zeitungen, Spezialsendungen im Fernsehen, Expertengespräche im Radio. Die Regierung hat sich eingeschaltet, Mitte Mai verkündete Präsident Gustavo Petro sogar auf Twitter, man habe die Kinder gefunden - nur um dann zurückzurudern: Der linke Staatschef war wohl falsch gebrieft worden. Petro musste sich entschuldigen, im Anschluss erklärte er: "Die Suche nach den Kindern hat jetzt höchste Priorität."

Ein Dickicht aus Zweigen und Blättern

Mehr als 300 Einsatzkräfte sind heute an der "Operation Hoffnung" beteiligt. Dazu bekommen sie Unterstützung von Suchtrupps indigener Gemeinschaften. Flugzeuge und Hubschrauber überfliegen das Gebiet, werfen nachts Leuchtraketen ab und setzen Wärmebildkameras ein. Dass die Kinder dennoch bis heute nicht gefunden wurden, liegt an der Unwirtlichkeit des Terrains: Ein Dickicht aus Zweigen und Blättern, teilweise betrage die Sicht keine 20 Meter, sagt Sánchez, der Leiter des Suchkommandos. Der Regen verwischt die Spuren, dazu lauern im Wald Gefahren, Schlangen, Jaguare, Moskitos, die Krankheiten übertragen.

Spätestens hier ist man dann wieder bei der Frage, ob die vier Geschwister in so einer feindlichen Umgebung wirklich noch am Leben sein könnten. Tatsächlich gab es in der Vergangenheit immer wieder ähnliche Fälle, darunter den der deutschstämmigen Juliane Koepcke, die in den 70er Jahren als junge Frau einen Flugzeugabsturz im peruanischen Regenwald überlebte und zehn Tage allein durch den Dschungel irrte. Die vier Geschwister sind zwar noch Kinder, gleichzeitig aber kennen sie sich mit dem Leben in der Wildnis aus. Sie gehören einer indigenen Gemeinschaft an. Ihre Großmutter sagt, vor allem die 13-Jährige, Lesly, wisse, welche Pflanzen essbar sind und welche nicht.

Tot seien die Kinder jedenfalls nicht, glaubt auch der Leiter des Suchtrupps, allein deshalb schon, weil ihre Leichname Tiere angezogen hätten, aasfressende Vögel zum Beispiel, wodurch man die Kinder hätte finden können. Die Suche jedenfalls soll weitergehen, die "Operation Hoffnung" ist nicht beendet.

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