Düsseldorf (dpa) - Auf den Gerichtsfluren der Republik ist sein Buch zur Zeit ein großes Gesprächsthema. Der Dinslakener Amtsrichter Thorsten Schleif (39) geht mit seinem eigenen Berufsstand ungewöhnlich hart ins Gericht.
Amtsrichter Schleif wirft der deutschen Justiz auf mehr als 200 Seiten Versagen vor, Titel des Buchs: „Urteil: ungerecht“.
Dabei spart Schleif nicht mit Kritik an der Richterschaft, der er zu wenig Selbstbewusstsein einerseits und Arroganz andererseits attestiert. Mangelhafte Ausbildung, schlechte Ausstattung, ein intransparentes Beförderungswesen, schlechte Bezahlung und gefährliche Überlastung - dazu wollte er nicht länger schweigen, schreibt Schleif.
Der Rechtsstaat sei in derart schlechtem Zustand und stehe vor dem Abgrund, was ihm „sehr große Sorgen“ bereite, sagte der Jurist der Deutschen Presse-Agentur. Das Misstrauen der Bevölkerung in die Rechtsprechung wachse.
Dem widerspricht Mathias Kirsten, Direktor des Amtsgerichts Gelsenkirchen: Die deutsche Justiz stehe im internationalen Vergleich gut da, sagte er der Zeitung „NRZ“. Der Rechtsstaat funktioniere, und die Bürger hätten Vertrauen in ihre Justiz.
Diese habe längst Probleme, geeigneten Nachwuchs zu finden, meint dagegen Schleif. „Alles, was im Berufsleben benötigt wird, vermittelt das Studium nicht“, schreibt Schleif. Die Aus- und Weiterbildung sei mit „erbärmlich“ sehr wohlwollend beschrieben.
Im Strafrecht sei das größte Manko, dass die Richter in Aussagepsychologie kaum geschult seien: „Ein Richter ist bei der Beurteilung einer Zeugenaussage kaum kompetenter als ein Laie.“ Die Gefahr sei groß, dass er „während seines gesamten Berufslebens die Glaubhaftigkeit einer Aussage nicht richtig beurteilen kann. Hierdurch sind Fehlurteile vorbestimmt.“
Dennoch seien die Richter von ihren eigenen Fähigkeiten überzeugter als Angehörige anderer Berufe - eine gefährliche Kombination aus „Ignoranz und Arroganz“, schreibt Schleif. Je erfahrener der Richter, desto größer seine Selbstüberschätzung.
Auch um die Unabhängigkeit der Justiz sei es schlechter bestellt als in vielen anderen europäischen Ländern: Die Spitzenposten würden hierzulande in vielen Bundesländern von der jeweiligen Landesregierung bestimmt. Angepasste Ja-Sager aus der Justizverwaltung machten regelmäßig das Rennen. Damit sei die Justiz als dritte Staatsgewalt erschreckend schlecht gegen Missbrauch gefeit.
Am Deutschen Richterbund lässt Schleif kein gutes Haar: eine Vereinigung „unterwürfiger Bittsteller“ mit der Durchsetzungskraft eines Wattebäuschchens sei die Interessenvertretung.
Der so gescholtene Verband will sich zu der Kritik des Richters auf Anfrage nicht äußern, dabei sieht er einige der Kritikpunkte Schleifs ganz ähnlich: unzureichende Bezahlung, Nachwuchssorgen, hohe Belastung, immer längere Verfahrensdauer und Personallücken. Die Landgerichte müssten in fast jedem dritten Wirtschaftsstrafverfahren einen Strafrabatt geben, weil das Verfahren zu lange gedauert hat.
Nach Ansicht Schleifs sprechen die Richter sogar reihenweise Skandalurteile. Aus Unsicherheit, aber auch, um vom Bundesgerichtshof keine Rechtsfehler attestiert zu bekommen, verhängten sie möglichst milde Strafen. Das Risiko, dass eine überlastete Staatsanwaltschaft Revision einlegt, sei nämlich viel geringer als bei einem unzufriedenen Angeklagten. Manche Richter hängten Bewährungsstrafe an Bewährungsstrafe, obwohl Verurteilte rückfällig wurden und die Bewährung eigentlich widerrufen werden müsste.
Im Düsseldorfer Justizministerium weist man Schleifs Vorwurf der „Kuscheljustiz“ zurück. Das Buch sei nicht mit dem Ministerium abgestimmt, betont ein Sprecher auf Anfrage, räumt aber ein: Allein in Nordrhein-Westfalen seien derzeit 250 Richterstellen unbesetzt, Tendenz steigend. Einzelne Urteile werde das Ministerium aber aus Respekt vor der Unabhängigkeit der Richter nicht bewerten.
Für die Bemühungen um Richter-Nachwuchs hat Schleif besonders viel Spott übrig: Der Proberichter, dessen Konterfei das NRW-Justizministerium für eine Nachwuchskampagne auserkoren hatte, habe den Richterdienst bereits quittiert, bevor die Plakate trocken gewesen seien.
Trotz der harschen Worte: „Mich erreicht viel Zustimmung von Richterkollegen aus verschiedenen Bundesländern“, sagt Schleif. Natürlich gebe es auch kritische Stimmen: Eine Richterin aus Bayern habe das Buch als „Schlag ins Gesicht“ bezeichnet - es aber zu dem Zeitpunkt vermutlich noch gar nicht lesen können.