Schlafende Politiker
Ein Traumjob
War es Jetlag, die kurz vorher stattfindende G20-Konferenz in Rom oder einfach nur berufsbedingte Dauermüdigkeit? Auf einem Video sieht man, wie US-Präsident Joe Biden kurz vor seiner Rede auf der Klimakonferenz in Glasgow mehrmals die Augen zufallen. Die Szenen lösten Aufregung im Netz aus: Nimmt Biden die Klimakrise nicht ernst genug? Auf Twitter trendete "Sleepy Joe", schläfriger Joe, der Spitzname, den Trump Biden im Wahlkampf verpasst hatte. Dabei sollte man Politikern ihre Schläfrigkeit nicht übel nehmen. "Wer zehn Nächte hintereinander nur sechs Stunden schläft, befindet sich, was Leistungsvermögen, Reaktionsgeschwindigkeit, Gedächtnis und Urteilskraft angeht, in einem Zustand, als hätte er ein Promille Alkohol im Blut", sagte der Baseler Chronobiologe Christian Cajochen einmal dem SZ-Magazin.
Wusste das auch der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi, als ihm 2010 auf einer Konferenz in der libyschen Stadt Sirte die Augen zufielen? Überstunden und Schlafmangel werden von vielen in der Leistungsgesellschaft glorifiziert. Dabei hat eine Studie der Forschungs-Organisation RAND Europe gezeigt: Wenn Arbeitnehmer zu wenig schlafen, arbeiten sie weniger produktiv und fehlen zudem häufiger als ausgeschlafene Kollegen. Deswegen möchte man Biden, Berlusconi und Kollegen zurufen: Träumt weiter, schlaft euch aus!
Nicht immer muss ein öffentlich schlafender Politiker an Schlafmangel leiden: Als der erzkonservative britische Politiker Jacob Rees-Mogg während der Brexit-Debatte im September 2019 ein Nickerchen im Unterhaus machte, handelte es sich vermutlich eher um gezielte Provokation als um eine Müdigkeitsattacke. Schlafen als Protest. Rees-Mogg wurde für seine Aktion heftig kritisiert.
Auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan ist vor Übermüdung nicht gefeit: Im Juli 2021 schlief er während einer Militärparade auf Zypern ein. Vorher hatte er gefordert, bei einer Zwei-Staaten-Lösung für die Mittelmeerinsel "keine Eingeständnisse" zu machen.
In der Bibel steht: "Wer arbeitet, dem ist der Schlaf süß." Hier ist zu sehen, wie Papst Benedikt im April 2010 bei einer Messe in Malta selig schlummert. Wer viel arbeitet, dem ist der wenige Schlaf vielleicht besonders süß. Und am besten wäre es doch, erst gar nicht so viel zu arbeiten. In der Bibel steht nämlich auch: Am siebten Tag ruhte Gott und freute sich über seine Schöpfung.
Deswegen sollte man sich nicht über schlafende Politiker aufregen (die Collage zeigt übermüdete Politiker und Politikerinnen auf dem ASEM-Gipfel 2008), sondern über eine Gesellschaft, in der Schlafmangel als Trophäe gesehen wird. In China gibt es seit einigen Monaten die Protestbewegung Tang ping, zu deutsch "Flach liegen", deren Mitglieder gegen das überharte Arbeitsethos in China aufbegehren. Ihr Wahlspruch lautet: "Flach liegen ist Gerechtigkeit." Lieber Joe Biden, legen Sie sich doch einfach mal hin.