Japan:Sechs Jahre Haft für vorbeugenden Mord

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Hideaki Kumazawa, ehemaliger Vize-Minister und Diplomat, nach seiner Verhaftung im Juni 2019. (Foto: Kotaro Numata/AP)

Ein ehemaliger japanischer Politiker hat seinen gewalttätigen Sohn erstochen, weil er fürchtete, dieser könnte anderen etwas antun. Nun ist in letzter Instanz das Urteil gefallen.

Von Thomas Hahn, Tokio

Die Zeit vor dem endgültigen Urteil verbrachte der frühere Vizeminister Hideaki Kumazawa am Ort der Bluttat. In seinem Haus in Nerima, Präfektur Tokio, mit seiner Frau. Mancher wunderte sich darüber, dass er nach seiner Freilassung auf Kaution an den Ort zurückkehrte, an dem er Anfang Juni 2019 seinen 44 Jahre alten Sohn Eiichiro mit Messerstichen getötet hatte. Einmal fing ihn ein Reporter des Boulevardmagazins Friday vor der Haustür ab und fragte ihn danach. Kumazawa sagte: "Das ist meine Heimat, also ist es nur natürlich, dass ich zurückkehre." Und nun? Muss er wieder fort. Das Berufungsverfahren endete am Dienstag. Das Urteil bleibt bestehen. Hideaki Kumazawa, 77, muss für sechs Jahre ins Gefängnis.

Damit ist ein Fall zum Abschluss gekommen, der in Japan viel Aufsehen erregt hat. Und zwar nicht nur weil der Täter Kumazawa ein Spitzenbürokrat im Agrarministerium und später Japans Botschafter in Tschechien war. Sondern weil die Tragödie für eine Sorge stand, welche die Öffentlichkeit im Inselstaat schon länger umtreibt.

Eiichiro Kumazawa, der Sohn, wurde zunächst als Hikikomori beschrieben, als ein Mensch also, der sich aus dem öffentlichen Leben in seine vier Wände zurückzieht. Das Phänomen wird seit Ende der Neunzigerjahre öffentlich diskutiert. Es gilt als Symptom einer Leistungsgesellschaft, vor der manche Menschen in die Abgeschiedenheit flüchten. Etwa eine Million Hikikomori leben laut Gesundheitsministerium in Japan. Tatsächlich gibt es sie auf der ganzen Welt und mit verschiedenen Charakteren, die man nicht auf das Klischee vom computerspielsüchtigen Nichtsnutz reduzieren kann. Aber wahr ist, dass viele Hikikomori in die Jahre gekommen sind und ihre ergrauten Eltern überfordern. War Eiichiro Kumazawa so einer?

Die Verteidigung plädiert auf Notwehr

Hideaki Kumazawa rief nach der Tat selbst die Polizei. Nach seinen ersten Aussagen war der Sohn ein Zurückgezogener, der zur Gewalt neigte. Eiichiro habe lange alleine gewohnt, ehe er Ende Mai 2019, Tage vor der Bluttat, in die Wohnung der Eltern zog. Er habe sich über den Lärm von einem Sportfest beschwert. Hideaki Kumazawa habe Angst bekommen, Eiichiro könne anderen etwas antun - zumal es in diesen Tagen einen Amoklauf gab. Ein Mann, der ebenfalls als Hikikomori galt, hatte in Kawasaki zwei Menschen erstochen und mehrere verletzt, bevor er sich selbst das Leben nahm.

Hilfsorganisationen waren besorgt, dass der Eindruck entstehen könne, alle Hikikomori seien potenzielle Gewalttäter. Im Prozess spielte der Begriff dann keine große Rolle. Die Staatsanwaltschaft stellte fest, dass Eiichiro Kumazawa eine Entwicklungsstörung hatte und am Tag nach dem Einzug bei den Eltern gewalttätig geworden war. Daraufhin habe Kumazawa darüber nachgedacht, seinen Sohn umzubringen. Er habe "Eiichiro überrumpelt und ihn einseitig mit starker mörderischer Absicht angegriffen". Mehr als 36 Wunden hatte der Sohn. Der alte Vater war fast unversehrt. Das Urteil im Dezember 2019 wirkte milde: sechs Jahre Gefängnis. Die Verteidigung plädierte auf Notwehr und ging in Berufung. Erfolglos. Jetzt ist die Akte zu, und keiner kann aus der Tragödie ableiten, Hikikomori seien grundsätzlich gefährlich.

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