130 Jahre Prohibition in Damascus, Maryland:Bier gewinnt

Lesezeit: 4 min

Auf der Wiesn unverzichtbar, nun auch in Damascus, Maryland, verfügbar: Alkohol-Schanklizenzen lassen die Bewohner auf eine diversifiziertere Gastronomie abseits von KFC, Burger King und Co. hoffen. (Foto: Richter)

Spät, aber doch: In der US-Stadt Damascus ist erst jetzt die Prohibition abgeschafft worden. Nach 130 Jahren darf dort nun wieder Alkohol ausgeschenkt werden. Die Bewohner hoffen auf ein Aufblühen der eher spärlichen Gastronomie.

Von Nicolas Richter, Damascus

Bald feiern sie ihren Hochzeitstag, wie so viele Verliebte werden sie ausgehen und ein Glas Wein bestellen. In diesem Jahr allerdings müssen Nicholas und Barbara Boxwell nicht meilenweit mit dem Auto fahren, damit außer Essen auch vernünftige Getränke auf dem Tisch stehen. Neuerdings bekommen sie beides in ihrem Stammlokal nebenan: Als letzter Ort im Bundesstaat Maryland hat Damascus jüngst die Prohibition beendet - nach mehr als 130 Jahren hat nun auch diese Gemeinde aufgehört, trocken zu sein.

Die Boxwells haben als Erste mit der Prohibition gebrochen. Sie sind sich nicht ganz einig, wann es war, er glaubt Freitag, sie Samstag, aber es war Mitte Februar, um 17 Uhr im Restaurant "New York J & P Pizza" an der Shopping Mall. Als erste Bürger von Damascus seit Menschengedenken haben sie in einer örtlichen Gaststätte Alkohol bekommen: Er ein "Miller Lite"-Bier, sie ein Glas "White Zinfandel". Es gab kein großes Hallo, keine Sause, kein Gelage, keine Orgie, nicht mal Freibier; bloß zwei niedrigprozentige Getränke zum Essen.

Wenn es hier, eine Autostunde nördlich der Hauptstadt Washington, überhaupt je einen Exzess gegeben hat, dann allenfalls diesen: Der Ort konnte scheinbar nie genug bekommen von der Prohibition. Als das landesweite Alkoholverbot 1920 in Kraft trat, hatte Damascus schon vier Jahrzehnte auf den Verkauf verzichtet, mutmaßlich unter starkem Einfluss seiner methodistischen Kirchen.

Als die staatliche Prohibition 1933 endete, mussten die Bürger zusätzlich abstimmen, um den Bann in ihrem jeweiligen Ort zu beseitigen. Aber es fand sich keine Mehrheit in Damascus, weder in den Dreißigern, noch in den Siebzigern, Achtzigern, Neunzigern. Doch der Ort mit heute mehr als 15.000 Einwohnern hat sich durch den Zuzug neuer Bürger verändert: Sie arbeiten in Washington oder Baltimore, ziehen aber hierher aufs Land. Die Neuen haben nun den Ausschlag gegeben: Im November stimmten in Damascus fast 66 Prozent dafür, Bier und Wein in den örtlichen Restaurants zu erlauben. Die Hüter der alten Moral sind nun - auch hier - unterlegen.

Die Boxwells leben seit vierzig Jahren hier, und die Pizzeria ist wie ihr zweites Wohnzimmer. Hier feiern sie Muttertag, Valentinstag, die Kindergeburtstage ihrer Enkel, hier treffen sie Freunde, um das Superbowl-Spiel zu gucken. "Wir haben nicht schlecht geschlafen, weil Alkohol verboten war", sagt Nicholas Boxwell, "aber es war doch lästig. Was soll schon passieren? Anders als die Raucher stört man andere nicht, wenn man ein Glas trinkt. Außerdem ist dies keine Sportsbar, in der sich junge Leute volllaufen lassen.

Hoffnung auf abwechslungsreichere Gastronomie

Manche im Ort hoffen, dass die neue Lockerheit anspruchsvollere Gastronomen anzieht. "Schauen Sie sich um", sagt Skip, der Tankwart, "was man uns hier bietet. Wir sind völlig unterversorgt". Tatsächlich sind es die üblichen Verdächtigen der Massenabfertigung, die an der Hauptstraße liegen: Burger King, KFC, Taco Bell. "Wirte, die Alkohol ausschenken dürfen, können auch Geld verdienen", sagt Skip.

In Damascus ist es noch üblich, beim Ortsfest im Herbst blaue Schleifen zu vergeben für die schönsten Ziegen, die besten Rhabarberkuchen und die leckersten Gewürzgurken. Andererseits sieht es an der Hauptstraße mit ihren Fast-Food-Ketten längst aus wie überall im Suburbia, das Washington umgibt: praktisch, einheitlich, langweilig. Viele Alteingesessene sind unglücklich darüber, dass sie sich anpassen müssen - dem Zeitgeist, den Gewohnheiten der Zugereisten. Der Normalität der Anderen.

Das Restaurant "Tom and Ray's" jedenfalls, das so aussieht, als sei es in den Sechzigern geblieben, schenkt vorerst keinen Alkohol aus. Gloria, die Kellnerin, missbilligt die neue Freizügigkeit. "Mein Vater war Alkoholiker und sehr brutal", sagt sie und findet, dass Damascus der Jugend eine seltene Botschaft vermittelt habe: "Man kann auch ohne Alkohol - und Sex - gut leben, glücklich sein und genießen." Allerdings, fügt Gloria hinzu, haben die jungen Leute ja auch während der Prohibition immer getrunken (und miteinander geschlafen sowieso).

"Hey", ruft sie dem jungen Kerl zu, der hinter der Theke jobbt, "wo kriegt ihr euren Stoff her?" Sean, 17, die Haare in die Stirn geföhnt, teilt seine Erfahrung gern: "Irgendjemand kauft immer was, die großen Brüder meistens, und dann feiern wir halt bei irgendwem zu Hause." Jeder kennt die Adressen der Alkoholläden in den Nachbarorten, und wenn gerade kein großer Bruder in der Nähe ist, drückt man einem Fremden 20 Dollar in die Hand und bittet ihn, Bier aus dem Laden zu holen.

Jugendliche haben "ohnehin getrunken"

Für die Jüngeren ändert das Ende der Prohibition nichts: In der Öffentlichkeit dürfen sie vor dem 21. Geburtstag auch anderswo nicht trinken. Aber im Ort scheint jeder zu wissen, dass sie privat nicht nur mit Alkohol feiern, sondern auch mit anderen Drogen. Weil Damascus weder Kegelbahn noch Billardkneipe bietet, unterhalten sie sich eben mit anderen Mitteln.

Gloria, die Kellnerin, weiß von dieser Bigotterie. Auch etliche Erwachsene haben sich daran gewöhnt, erst zu Hause Alkohol zu trinken und dann Essen zu gehen. Aber sie bleibt dabei: "Die Prohibition machte diesen Ort einzigartig."

"Einzigartig? Eher: Eigentümlich", sagt Tina Kiima, die Wirtin des "New York J & P Pizza". Nach der Abstimmung im November hat sie gleich als erste Unternehmerin die Alkohollizenz beantragt. Sie musste dann vor den Fachleuten der Landkreis- Verwaltung erscheinen und nachweisen, dass sie das Alter ihrer Kunden überprüfen kann, indem sie zum Beispiel einen gefälschten Führerschein erkennt. Sie hat jetzt sechs Weine (unter anderem einen "Relax Riesling") im Angebot, fünf Sorten Flaschenbiere und demnächst auch Fassbier.

Am 6. November, als Damascus seine Prohibition beendete, stimmten die Bürgerinnen und Bürger Marylands mehrheitlich für die Homo-Ehe, in anderen Staaten für die Legalisierung von Marihuana. Vorschriften aus alten Zeiten fallen nun selbst in den ländlichen Winkeln.

In Damascus nimmt man das Ergebnis hin, auch wenn man überstimmt wurde, niemand hat Tina Kiima angefeindet. Inzwischen hat auch das "Music Café" eine Lizenz beantragt, allerdings eine Stammkundin verloren: Bernardine Gladhill Beall, 75, hat angekündigt, dass sie nie wieder einen Fuß in ihr Lieblingscafé setzen werde, weil sie Alkohol aus Prinzip nicht fördern wolle, auch nicht mittelbar. Viele andere Gäste dagegen dürften sich freuen, dass sie nicht nur Tee oder Orangensaft bekommen, wenn Rockmusiker auf der Bühne stehen.

Nicholas und Barbara Boxwell, die Miller- und Zinfandel-Trinker, 81 und 76 Jahre alt, legen Wert darauf, dass sie keine Säufer sind. "In unserem Alter nimmt man so viele Medikamente, dass man eh nichts mehr verträgt", sagt sie. Das Ende der Prohibition fällt insgesamt also nüchtern aus. Etliche Einwohner sind ja seit Jahrzehnten nicht mehr trocken, aber sie dürfen jetzt eben ausgehen wie normale Leute. Die Boxwells haben Jahrzehnte darauf gewartet. Sogar ihr 59. Hochzeitstag, der jetzt bevorsteht, wird nochmal einzigartig.

© SZ vom 01.03.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: