Sexuelle Gewalt:Quälend lange zehn Sekunden

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In zehn Sekunden lässt sich auch viel Unheil anrichten. (Foto: Pixtal/mauritius images / Pixtal)

An einer italienischen Schule hat ein Hausmeister eine Schülerin begrapscht. Ist doch nicht so schlimm, meint ein Gericht in Rom - und löst damit einen Sturm der Empörung aus.

Von Marc Beise, Rom

Wie lang sind zehn Sekunden? Antwort: ganz schön lange. Man kann in dieser Zeit 100 Meter weit laufen, wenn man zur Weltspitze der Sprinter gehört. Andere drehen Zehn-Sekunden-Videos und bringen dabei ganz schön viele Informationen unter, wieder andere schwören beim Lernen auf Zehn-Sekunden-Pausen, damit sich das Wissen im Hirn verankern kann. In zehn Sekunden lässt sich auch viel Unheil anrichten. So geschehen in der Filmhochschule Roberto Rossellini in Rom, wo der 66-jährige Hausmeister eine Schülerin unsittlich berührt hatte. Die Berührung steht außer Frage, der Hausmeister gab sie zu, nannte das Ganze aber einen Scherz, und die Dauer der Berührung spielt in dem Fall eine wichtige Rolle.

Dem Opfer, der zur Tatzeit noch 17-jährigen Schülerin Laura, war nach dem Vorfall vom 12. April 2022 jedenfalls nicht zu Scherzen zumute. Der Hausmeister habe sie, ohne etwas zu sagen, von hinten gepackt. "Dann steckte er seine Hände in meine Hose und unter meinen Slip, betastete meinen Hintern und zog mich dann so hoch, dass mein Intimbereich schmerzte", berichtete sie der Zeitung Corriere della Sera: "So scherzt ein alter Mann nicht mit einem siebzehnjährigen Mädchen." Die Schule hat den Vorgang angezeigt, der Fall ging vor Gericht, die Staatsanwaltschaft forderte eine satte Haftstrafe. Das Urteil der fünften römischen Strafkammer aber lautet: Freispruch.

Nicht nur in Italien tun sich Gerichte schwer mit dem Grapschen

Das Thema erobert gerade die sozialen Medien, und zwar vor allem wegen der Begründung des Gerichts. Das folgte der Argumentation des Hausmeisters, die Berührung habe ja nur eine Handvoll Sekunden gedauert (Das Opfer sprach von fünf bis zehn Sekunden) und sei ohne lüsterne Absichten geschehen; daher sei keine Straftat zu erkennen. Unter den Hashtags #10secondi und #palpatabreve (kurzes Betatschen) veröffentlichen Frauen Videos, in denen sie sich für zehn Sekunden an Brust oder Po fassen oder fassen lassen - um zu zeigen, wie quälend lang zehn Sekunden sein können. Auch bekannte Schauspieler und Italiens einflussreichste Influencerin Chiara Ferragni, die auf Instagram fast 30Millionen Follower hat, beteiligten sich.

Als sie die Urteilsbegründung las, habe sie nur noch Wut empfunden, sagte Laura dem Corriere della Sera: "Das ist keine Gerechtigkeit. Ich fange an zu glauben, dass es falsch war, den Institutionen zu vertrauen, denn ich fühlte mich zweimal betrogen: zuerst in der Schule, wo das Geschehene passierte, und dann durch das Gericht." Und überhaupt: "Was wäre gewesen, wenn die Berührung länger gedauert hätte, was hätten sie dann gesagt? Dass ich eingewilligt hätte?"

Mit der juristischen Einordnung des "Grapschens" tun sich Gerichte nicht nur in Italien schwer. Auch in Deutschland waren bis vor Kurzem nur sogenannte "echte Sexualdelikte" strafbar, juristisch formuliert: Die Schwelle zur Strafbarkeit wurde erst überschritten, wenn eine sexuelle Handlung "von einiger Erheblichkeit" vorgenommen wurde, wozu Grapschen nach Ansicht von Richtern meist nicht gehörte. Erst mit der Strafrechtsreform von 2016 wurden unter dem Slogan "Nein heißt Nein" neue Vorschriften hinzugefügt und andere verschärft, sodass die Gerichte nun das Instrumentarium haben, auch Grapschen zu bestrafen.

Meloni distanziert sich von La Russa

In Italien gesellt sich die Empörung zu einer anderen Debatte: jener um den zweithöchsten Repräsentanten des Staates, Senatspräsident Ignazio La Russa von der postfaschistischen Regierungspartei Fratelli d'Italia, dessen 22-jähriger Sohn von einer gleichaltrigen Frau beschuldigt wird, er habe sie in der Wohnung der La Russas in Mailand vergewaltigt, während sie - möglicherweise durch K.o.-Tropfen - besinnungslos war. Der Fall selbst liegt bei der Justiz, aber die lapidare Art, wie der Vater den Sohn in Schutz nahm und die Glaubwürdigkeit der Frau in Zweifel zog, löste Kritik und Empörung aus. Zumal es vor einigen Jahren einen ganz ähnlich gelagerten, bis heute nicht abgeschlossenen Fall in der Familie des Gründers der linkspopulistischen "Fünf-Sterne-Bewegung" gegeben hat, Beppe Grillo, dessen Sohn derselbe Vorwurf gemacht wird, und auch dort entzündete sich ein politischer Streit an der Reaktion des Vaters.

Im Falle von La Russa, der ein enger Partei- und Weggefährte der Ministerpräsidentin Giorgia Meloni ist, hat Letztere ihr wochenlanges Schweigen jetzt gebrochen und sich am Rande des Nato-Gipfels in Vilnius öffentlich von ihm distanziert: Als Mutter könne sie das Leiden des Vaters La Russa gut verstehen, dennoch hätte sie sich an seiner Stelle nicht öffentlich zu dem Fall geäußert, und: "Ich neige von Natur aus dazu, mit einem Mädchen zu sympathisieren, das eine solche Anschuldigung vorbringt."

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