Schöne Gegend hier. Hübsche Villen und Einfamilienhäuser, hell verputzt, mit Gärten, ganz in der Nähe der Innenstadt. Schick sind auch die Autos, die am Wegesrand stehen. Wer hier wohnt, dem geht es finanziell gut. Das verraten die für eine Metropole großen Grundstücke, das verrät auch die Kleidung vieler Leute, die hier in der frühen winterlichen Abendämmerung spazierengehen: Gediegene Steppmäntel, karierte Wollschals, schlichte, aber gute Schuhe. 70 000 Euro beträgt das Durchschnittseinkommen im Hamburger Nobelviertel Harvestehude, mehr als doppelt so viel wie der Hamburger Durchschnitt.
Und hier, direkt an der Haltestelle Sophienterrasse, baut das städtische Unternehmen "Fördern & Wohnen" gerade das ehemalige Kreiswehrersatzamt zu einem Flüchtlingsheim um. Im Frühjahr 2015 sollen bis zu 220 Flüchtlinge einziehen, die meisten davon Familien. Der Klotz mit dem weiträumigen Grundstück steht direkt an der Ecke zu einer großen Straße. Von der anderen Seite reiht sich Villa an Villa an das zukünftige Heim.
Ein Thema, das den Anwohnern unangenehm ist. Die Dame, die mit ihrem Hund vorbeispaziert, hat es eilig. "Ich sage dazu nichts", sagt sie. Auch ein älteres Paar, das in der Dämmerung spazierengeht, schüttelt die Köpfe und läuft rasch weiter. Eine jüngere Frau, die ein Fahrrad schiebt, sagt: "Wissen Sie, es ist so viel geschrieben worden über das Heim und die Leute hier, das wollen die hier nicht."
Harvestehude unter Rassismus-Verdacht
Die Bewohner von Harvestehude sehen sich gerade in eine unangenehme Ecke gerückt. Denn hier, im "Reichenghetto", wie es ein Satirebeitrag des NDR formuliert, sind die Flüchtlinge nicht allen willkommen. Einige Anwohner haben gegen das Heim geklagt, die Entscheidung des Gerichts steht noch aus.
Rassismus-Verdacht? Steht im Raum. Doch die Heimgegner hier wollen eigentlich keine Rassisten sein, deswegen schwingt die Angst vor Kriminalität bei den meisten nur unterschwellig mit. Von "kulturellen Besonderheiten" ist dann die Rede und von "traumatisierten Menschen". Sie bringen häufig Argumente, die nach Fürsorge für die Flüchtlinge klingen. "Bei so großen sozialen Unterschieden fühlen die sich ja auch nicht wohl", sagt etwa eine Frau in dicker Steppjacke, die ihr Auto in der Nähe des zukünftigen Heims geparkt hat. "Hier gibt es ja nicht mal einen Aldi in der Nähe, wo sollen die denn einkaufen?"
So argumentierten auch empörte Redner auf einer Bürgerversammlung im Juni gegen das Heim. Dort hieß es außerdem: Das Grundstück an der Sophienterrasse sei so teuer, da könnten anderswo doppelt so viele Plätze geschaffen werden. Ein halbes Jahr später, auf einem Vortrag von AfD-Chef Jörn Kruse zum Thema "Einwanderung braucht klare Grenzen", ärgern sich Bürger immer noch laut über den Bau an der Sophienterrasse - obwohl der Vortrag weit entfernt im eher kleinbürgerlichen Niendorf stattfindet.
Auch Hendrikje Blandow-Schlegel ärgert sich. Aber nicht über das Heim, sondern darüber, wie die Diskussion hier in ihrem Stadtteil läuft: "Ich habe die Debatte teilweise als sehr zynisch empfunden", sagt die Anwältin und SPD-Politikerin, die in Harvestehude wohnt. Sie findet: Gerade hierher, in das wohlhabende Viertel, sollten Flüchtlinge kommen. "Die Leute hier sind doch gebildet, weltläufig", sagt sie. "Daraus entsteht doch eine Kompetenz."
Sie hat im Februar einen Verein gegründet, die "Flüchtlingshilfe Harvestehude", und will den Bewohnern des Heims an der Sophienterrasse bei der Integration helfen, wenn sie im Frühjahr 2015 einziehen. Mehr als 70 Mitglieder und 100 Unterstützer hat der Verein inzwischen, erzählt sie stolz im Café Funk-Eck. Tatsächlich äußern sich bei einem Spaziergang durch Harvestehude viele ähnlich wie Blandow-Schlegel - und sind empört über das Bild, das wegen der Heimkritiker derzeit von ihrem Stadtteil draußen ankommt. Der Tenor der Befürworter: Wer, wenn nicht wir, sollte helfen?
Was hier in Harvestehude passiert, passiert gerade an vielen Orten in Deutschland. Viele Städte müssen - ähnlich wie Hamburg - neue Flüchtlingsunterkünfte bauen, da immer mehr Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Die wenigsten wollen Bilder wie kürzlich in München haben, wo Flüchtlinge unter freiem Himmel übernachten mussten, weil die Unterkünfte überfüllt waren. Nicht zuletzt, weil das Gefühl, dem Staat entgleite die Kontrolle, die Anwohner zusätzlich verunsichert. In der Umgebung der Bayernkaserne, einem der überfüllten Aufnahmelager, machten Gerüchte über Ebola-Infektionen die Runde und über Flüchtlinge, die Anwohner belästigten. Gegner der Unterkunft gründeten eine Facebook-Gruppe, in der sich gefährliches Halbwissen und Unwahrheiten rasch vermehrten.
München und Harvestehude sind keine Ausnahmen, sondern die Regel. Fast überall haben es die Behörden erst einmal mit Anwohnern zu tun, die Bedenken vorbringen. Da gibt es von der rechten Szene unterwanderte Demonstrationen wie im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf, einem Stadtteil voller Hochhäuser und nicht eben vermögender Einwohner. "Wir wollen kein - Asylantenheim" skandieren dort die Demonstranten, die sich trotzdem nicht Nazis nennen lassen wollen. Anderswo kommt der Protest leiser daher: "Rettet die Bahlmannwiese" heißt eine Bürgerinitiative in Münster, die sich gegen die Bebauung einer Wiese im Stadtteil Uppenberg ausspricht.
Zwei zufällig ausgewählte Beispiele, die neben dem - wenn auch sehr unterschiedlich ausgeprägten - Protest der Anwohner noch etwas mit Harvestehude gemeinsam haben: Auch hier gibt es Gegeninitiativen, Anwohner, die sich explizit für die Flüchtlinge in ihrer Nachbarschaft aussprechen. In Berlin heißt eine Pro-Flüchtlingsinitiative zum Beispiel "Hellersdorf hilft", in Münster schrieb eine "Offene Interessengemeinschaft Flüchtlingsunterkunft Falgerstraße" einen Brief an den Bürgermeister, in dem sie sich für die Unterkunft ausspricht.
"Wir haben doch eine moralische Verpflichtung, Flüchtlingen zu helfen, auch aus unserer eigenen Geschichte heraus", sagt Hendrikje Blandow-Schlegel in Harvestehude. Zum einen habe Deutschland "selbst viele Fluchtursachen gesetzt". Zum anderen können sich gerade ältere Menschen noch gut an die Flüchtlingsströme nach dem Zweiten Weltkrieg erinnern.
Krakeeler ignorieren, Bedenken ernst nehmen
Blandow-Schlegel selbst ist auch ein Kind von Flüchtlingen. Ihre Mutter floh während des Zweiten Weltkriegs aus Breslau, Mutter und Vater flüchteten in den 50er Jahren aus der DDR - und lernten sich dann in Stuttgart kennen. Sie hat bereits in den 90er Jahren eine Containerdorf-Initiative geleitet. Sie sagt: "Das schlimme an der Debatte nun ist auch, dass es viele laute Krakeeler gab, von einem 'Horrorhaus' war da die Rede. Da gehen die kleinen, leiseren Ängste unter." Und genau die müsse man ernst nehmen. Denn natürlich dürfe man als Anwohner fragen: Wie gehen wir denn mit Konfliktsituationen um? Wie ist es denn tatsächlich mit der Kriminalität in der Nähe von Flüchtlingsheimen?
Die "Flüchtlingshilfe Harvestehude" organisiert nun Veranstaltungen, die sich mit den Fragen und Vorbehalten rund um das Heim beschäftigen. Der nächste billige Supermarkt ist zwei Kilometer entfernt? Sie gründen eine Fahrrad-AG, damit er trotzdem leicht zu erreichen ist. Einen Dolmetscher-Pool organisieren Blandow-Schlegel und die anderen, Deutschunterricht, eine Freizeit-AG und Paten, die die Flüchtlinge bei Behördengängen begleiten. Zwar sind die Flüchtlinge noch gar nicht da, aber die Initiative will vorbereitet sein, Probleme erst gar nicht aufkommen lassen.
"Manchmal bekomme ich E-mails von Menschen, die mir sagen: Toll, endlich merkt man mal, dass hier nicht alle Leute mit der Nase hoch herumlaufen",sagt Blandow-Schlegel. Um einen kapitalismuskritischen Diskurs geht es Blandow-Schlegel aber nicht: "Es ist völlig in Ordnung, dass jemand ein schönes Haus hat. Es geht hier um soziale Verantwortung."
Wie viel Verantwortung hat Deutschland für Flüchtlinge? Diese Frage ist zumindest angekommen. Im Nobelviertel, auf der Münsteraner Wiese und in den Plattenbauten von Marzahn-Hellersdorf. Die Antwort allerdings ist nicht so leicht.