Erdbeben in der Karibik:"Bon Dieu! Bon Dieu!" - der Schrecken von Haiti

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Heftige Stöße, berstende Häuser, blutüberströmte Überlebende, erste Plünderungen - und Rufe nach "Jesus". Augenzeugen berichten, wie sie das Beben in Haiti und die Stunden danach in der Hauptstadt Port-au-Prince erlebt haben.

Karin Steinberger und Oliver Das Gupta

Die Natur hat nur eine Minute benötigt, um Port-au-Prince zu verheeren. Um 16:53 Uhr Ortszeit am Dienstagnachmittag bebte in der haitianischen Hauptstadt die Erde.

Gerettet: Helfer versorgen ein verletztes Mädchen in Port-au-Prince nach dem Beben. (Foto: Foto: Reuters)

Michael Kühn erlebte diese Momente in seinem Auto, der Regionalkoordinator der Welthungerhilfe in Haiti war auf dem Weg nach Hause.

Der Wagen habe sich in die Luft gehoben, gelenkt "wie von Geisterhand", sagt Kühn zu sueddeutsche.de. Auf der Straße sahen der Deutsche und seine Tochter Menschen, die sich nicht mehr auf den Beinen halten konnten. "Es war ein dramatisches Gefühl".

Die Erdstöße hatten die Stärke 7,0. Ihre Wucht war verheerend.

Innerhalb von Sekunden barsten unzählige Gebäude in dem bitterarmen Land. Die Mauern von Wohnhäusern, von Supermärkten und Hotels gaben nach, das Hauptquartier der Vereinten Nationen fiel ein, selbst große Teile des blütenweißen Präsidentenpalastes krachten zusammen.

Die Gattin des Staatschefs erklärte intzwischen, weite Teile der Stadt seien zerstört. Das Telefonnetz funktioniert nicht mehr. Aber über Satellit und das Internet dringen nach und nach Augenzeugenberichte von Port-au-Prince nach außen wie jener von Kühn oder Joel Trimble.

Den Missionar überkam in den ersten Sekunden des Bebens das Gefühl, ein Zug rase die Straße herunter. "Das Haus wackelte nicht - es schaukelte", sagt der Kirchenmann.

Im Video: Nach dem schwersten Erdbeben auf Haiti seit 200 Jahren gehen Rettungskräfte von Tausenden Toten aus. Weitere Videos finden Sie hier

"Jesus, Jesus", hätten die Menschen gebrüllt, so Reuters-Mitarbeiter Joseph Guyler Delva, alle liefen durcheinander. Die BBC zitiert den US-Regierungsbeamten Henry Bahn mit den Worten: "Alle sind total ausgeflippt." Der Himmel über der Stadt sei grau gefärbt - Staub, der beim Einsturz der vielen Gebäude aufgewirbelt wurde.

Astrid Nissen, die das Diakonie-Büros in Port-au-Prince leitet, wurde von dem Beben in ihrem Büro überrascht. Sie rettete sich auf die Straße, schreibt sie der Süddeutschen Zeitung via Internet. Auf einer nahen Kreuzung, hätten Dutzende Menschen zum Himmel gefleht: "Sie warfen sich auf die Knie und riefen: 'Bon Dieu! Bon Dieu!' - 'Guter Gott! Guter Gott!'."

Die Stunden nach dem Beben sind chaotisch: Die Nachrichtenagenur AFP berichtet, blutüberströmte und staubbedeckte Menschen irrten durch die Straßen der Zwei-Millionen-Stadt. Es habe erste Plünderungen in einem Supermarkt gegeben.

Wie viele Menschen noch in den Armenvierteln tot oder verletzt liegen, unter den Trümmern der Universitätsgebäude und Hotels - niemand kann es einschätzen. Sicher ist nur: Die Zahl der Todesopfer wird steigen.

Leichen liegen auf den Straßen

"Wir haben eine sehr, sehr schwierige Situation", sagt Hauke Hoop zu sueddeutsche.de. Er betreut die Einrichtungen der Nichtregierungsorganisation Care vor Ort.

Die Haitianer hoffen auf Hilfe aus dem Ausland. Selbst kann der bitterarme Karibikstaat kaum etwas tun: Unzählige Verschüttete sind noch nicht geborgen, laut Augenzeugen liegen Leichen auf den Straßen. Verletzte kauern daneben.

"Viele Straßen sind nicht befahrbar, weil es Erdrutsche gab", schreibt Astrid Nissen der SZ. "Wenn, dann kommt man nur mit dem Motorrad weiter." Durch das Beben sind Siedlungen an den Berghängen von Port-au-Prince laut Nissen abgerutscht - es waren Slums. Der medizinische Notstand ist jetzt schon akut: Selbst den guten Krankenhäusern seien die Medikamente ausgegangen.

"Schöner Sound inmitten einer Tragödie"

Carel Padre, ein Radio- und Fernsehmoderator, schreibt per Twitter, er habe bislang keine Krankenwagen oder Hilfsdienste gesehen. Die Menschen in der Nachbarschaft versuchen, sich gegenseitig zu helfen - "aber sie wissen nicht, wo sie beginnen und wohin sie gehen sollen."

Nach der Horror-Nacht liegen viele Menschen auf der Straße, sie sitzen in Gärten und anderen Freiflächen. Die Furcht vor Nachbeben ist groß: Die Erde hatte nach den ersten Stößen noch zwei weitere Male gezittert, inzwischen etwas weniger heftig.

Kirchengruppen liefen singend und betend durch die zerstörte Stadt, twittert der Teilnehmer troylivesay. "Es ist ein schöner Sound inmitten einer furchtbaren Tragödie."

Auch Astrid Nissen hat die Nacht auf der Straße verbracht. "Noch ist es ruhig hier, kein Auto ist zu hören", schreibt Nissen der SZ. "Ich glaube, dass das Chaos ausbrechen wird, wenn jetzt der Tag kommt."

© sueddeutsche.de/AFP/Reuters - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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