Erdbeben auf Haiti:Eine biblische Tragödie

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"Es ist apocalypse now": Sie kamen nach Haiti, um sich der Ärmsten der Armen anzunehmen. Jetzt sind auch viele Helfer tot - oder stehen vor den Trümmern ihrer Existenz.

Peter Burghardt

Die einen erzählen vom Zusammenbruch Haitis. Sie tun es, so gut die Nerven und die Technik in Port-au-Prince es zulassen. Michael Kühn, der als Vertreter der Deutschen Welthungerhilfe im ärmsten Land des Westens die Apokalypse erlebt. Anne-Rose Durocher, die behinderte Kinder betreute und nicht weiß, ob von ihnen noch welche leben. Alinx Jean-Baptiste, der sich für die Kindernothilfe um minderjährige Haussklaven und andere Opfer der Misere kümmerte und nun vor einem Trümmerhaufen steht. Ricardo Toro, Chiles General aus der Führung der schockierten UN-Blauhelme.

Leichen liegen auf den Straßen der Hauptstadt Port-au-Prince. Zentausende Menschen wurden unter Trümmern begraben, die genaue Todeszahl steht noch immer nicht fest. Das Rote Kreuz spricht inzwischen von bis zu 50.000 Toten, der Premierminister befürchtet doppelt so viele. Haiti versinkt im Chaos. (Foto: Foto: Reuters)

Sie haben sich gemeldet, mit E-Mails, Skype, Satellitentelefon. Gewöhnliche Telefonverbindungen sind genauso ausgefallen wie die Versorgung mit Wasser und Strom, aber wer Zugang zu Generatoren, Internet und anderer Hightech hat, kann sich verständigen. Die anderen können sich nicht mehr melden. Sie sind tot, wie der UN-Missionschef Hédi Annabi.

Vor einem Monat hatten wir sie alle getroffen: im Müll der Elendsviertel mit den Hütten aus Wellblech, zwischen Soldaten mit Schnellfeuergewehren und Aktivisten des Roten Kreuzes; vor halb überschwemmten Baracken und in klimatisierten Büros; auf Hotelterrassen mit dezenter Musik, angenehmer Brise und dem Blick von der aufgeräumten Oberstadt Pétionville hinab in die Hauptstadt, wo nach Sonnenuntergang schnell die Lichter ausgingen.

Seit dem Erdbeben vom Dienstag ist die Nacht finster wie nie. Die Hotels, das UN-Hauptquartier, Baracken und andere Orte unseres Besuchs sind eingestürzt. Sie haben Menschen begraben, Gerüchten zufolge auch jene Hotelbesitzerin, die uns zum Rum-Cocktail einlud, Spezialität des Hauses.

Binnen einer Minute endeten Zehntausende Leben, und für Nothelfer wurde der Einsatz in der Karibik über Nacht zum Horror.

Anne-Rose Durocher hatte bei dem Treffen schon so ein komisches Gefühl. Die frühere Reiseleiterin aus Nürnberg hat viele Katastrophen erlebt, seitdem sie vor drei Jahrzehnten nach Haiti kam. Umstürze, Massaker, Wirbelstürme. Trotz allem führte sie eine kleine PR-Agentur und gab bedürftigen Jungen und Mädchen mit körperlichen Problemen Reitunterricht. Zu ihrem Geburtstag kamen kürzlich auch Mitglieder des brasilianischen UN-Kontingents, deren Schicksal ebenfalls unklar ist.

Frau Durocher ist keine Hellseherin. Aber sie hatte diese unbestimmte Angst vor einer Katastrophe, welche die Slums in den Hängen neben den Schluchten und am Meer noch härter treffen könnte als all die verheerenden Hurrikans in den vergangenen Jahren.

Jetzt schreibt sie in einer Mischung aus Deutsch und Englisch: "Ich war gerade in der Stadt, es ist Apokalypse now. Ich denke, mindestens 40 Prozent sind zerstört, mein Büro ist kaputt. Viele Tote, und die wenigen Spitäler haben keine Medikamente mehr. Was kann ich sagen, das sind die worst parts of the bible."

Eine biblische Tragödie.

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Nach dem Erdbeben in Haiti wird immer mehr das Ausmaß der Katastrophe deutlich. In Bildern

Michael Kühn von der Welthungerhilfe hatte kürzlich beim Cocktail noch erzählt, es werde dank des UN-Einsatzes "tatsächlich besser. Das Problem ist nur, dass da unten wenig ankommt." Da unten: bei den Ärmsten.

Das Epizentrum des Erdbebens, das Haiti erschütterte. (Foto: Grafik: SZ)

Vier Wochen später steht er vor einer Web-Kamera. "Ich stehe vor dem eingestürzten Nationalpalast, ich sehe offene Wunden und abgetrennte Gliedmaßen", sagt er, ein ruhiger und erprobter Krisenmanager. "Es ist unglaublich. Die Leute sind vollkommen auf sich allein gestellt, wir als Helfer sind ja auch selbst betroffen." Kühns Einsatz in Haiti soll in den kommenden Monaten ablaufen, nach zehn Jahren.

Alinx Jean-Baptiste hatte uns zu dem Waisenkind Anderson geführt. Der Junge hatte beim letzten Hurrikan seine Eltern verloren, schuftete als sogenannter Réstavek (Kreolisch für Kindersklaven) für eine nur unwesentlich weniger arme Frau in der verschlammten Hafengegend und ging zur Schule der Heilsarmee.

Jean-Baptiste hat in Hannover studiert, ein freundlicher, zurückhaltender Haitianer, der seine Heimat aufrichten will. Fast zwei Tage nach den Erdstößen antwortet er, zum Glück: "Ich hab' es überlebt! Es ist die größte Katastrophe, die Haiti je getroffen hat. 100.000 oder mehr Tote. Die ganze Infrastruktur ist zerstört. Die Telefone laufen nicht. Ich kann es über Skype versuchen! Aber mein Büro ist durcheinander. Wir bleiben in Kontakt, ich gebe dir ein Zeichen."

Solche Botschaften treffen ein. Oder gar keine. Von der Hotelchefin mit dem bayerischen Mann kein Lebenszeichen. Es heißt, sie gelte als vermisst.

Der UN-Gesandte Annabi, ein stiller, sachlicher, zuvorkommender Diplomat mit schmaler Figur und ruhiger Stimme, soll in dem UN-Gebäude von Port-au-Prince gestorben sein. Er hatte uns so engagiert von seinen Hoffnungen und Sorgen erzählt: Es gehe bergauf, aber Haiti brauche mehr Unterstützung!

Im Video: Haiti in Trümmern. Die Opferzahlen bei dem schwersten Erdbeben seit 200 Jahren auf Haiti steigen stetig.

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Das Kommando übernimmt zunächst der Chilene Ricardo Toro. Auch ihm waren wir gegenüber gesessen, als alles schlimm war, aber tausendmal besser, als es seit diesem 12. Januar, 16 Uhr 53, ist. Auch er glaubte, Haiti könne es mit dem Beistand der UN schaffen. Nun hat auch den General das Schicksal getroffen. Seine Frau, so schreibt er, werde im Schutt des Hotels Montana vermutet.

SZ-Korrespondent Peter Burghardt hat den Inselstaat wenige Wochen vor dem schweren Erdbeben besucht.

© SZ vom 15.01.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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