Dass der Prozess gegen Joaquín Guzmán etwas Besonderes werden würde, damit war zu rechnen. Am Ende des ersten Verhandlungstages ist klar: Dieser Prozess gegen Amerikas zeitweiligen "Staatsfeind Nummer 1" ist eine Diva. Unberechenbar, launisch, aber nicht ohne Unterhaltungswert. Ein bisschen wie der Angeklagte selbst, den sie in seiner mexikanischen Heimat durchaus ehrfurchtsvoll "El Chapo" nennen, den Kurzen. Ein Mann - irgendwo zwischen Gefahr und Groteske.
Die ersten Journalisten stehen bereits um fünf Uhr morgens vor dem Eastern District Court in Brooklyn. Und das, obwohl es in Strömen regnet. Viele von ihnen sind aus Zentralamerika angereist, Mexiko, Kolumbien, Venezuela. Nicht alle werden es in den Gerichtssaal schaffen, auch ein Ersatzraum mit Livestream ist irgendwann voll. Zwischenzeitlich macht das Gerücht die Runde, es gebe eine Liste, nach der der Gerichtssaal besetzt werde.
Prozess gegen Drogenboss:Wegen "El Chapo" wird die Brooklyn Bridge gesperrt
In New York beginnt unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen der Prozess gegen den mexikanischen Kartellchef Joaquín Guzmán. Die Sorge vor einem Fluchtversuch ist groß.
Frustrierte Journalisten sind nicht das einzige Problem des New Yorker Bundesgerichts. Es muss im Verfahren gegen den mexikanischen Drogenboss die Sicherheit aller Beteiligten gewährleisten und dafür sorgen, dass der Prozess um "El Chapo" nicht bloß zum Spekatel verkommt, sondern zeigt, das der Rechtsstaat sich mit seinen Mitteln gegen das Organisierte Verbrechen behaupten kann. Wie schwierig das werden würde, hatte sich bereits in der vergangenen Woche bei der Auswahl der Jurymitglieder angedeutet. Ein potenzieller Laienrichter fiel durch, weil er versucht hatte, an ein Autogramm des Angeklagten zu kommen. Ein anderer gab in seinem Fragebogen an, gerne ein Sandwich namens "El Chapo" zu bestellen.
"Nur zur Erinnerung, ich bin immer noch Richter"
Manchem Richter würde diese Aufgabe wohl Magenschmerzen bereiten. Richter Brian Cogan geht sie am Dienstag mit einer Mischung aus Strenge und Sarkasmus an. "Nur zur Erinnerung, ich bin immer noch Richter Cogan", sagt er am frühen Nachmittag. Direkt nach dem Prozessauftakt am Morgen musste Cogan eine mehrstündige Unterbrechung anordnen, weil ein Jurymitglied darum gebeten hatte, von der Aufgabe entbunden zu werden. Die Frau, die zu ihrer eigenen Sicherheit nur als Juror Number One firmiert, gibt an, dass ihr der Prozess unerträgliche Ängste bereite. Guzmáns Hauptverteidiger Eduardo Balareza versucht, abzuwiegeln: In ihrem Brief an den Richter schildere die Frau nichts, was nicht jeder schon mal erlebt habe. Cogan grätscht rein: "Sprechen Sie bitte nur für sich selbst!"
Cogan, Mitte 60, weißer Bart, ist seit 2006 Bundesrichter. Wäre seine Robe rot und nicht schwarz - er könnte als Weihnachtsmann durchgehen. Das ist keineswegs despektierlich gemeint. Wenn der Richter "Good Morning, Mr. Guzmán!" sagt, klingt das wie eine Ermahnung in Richtung des Angeklagten, doch bitteschön brav zu sein.
Und tatsächlich wirkt "El Chapo" am ersten Prozesstag mehr wie ein jugendlicher Delinquent denn wie der gefürchtete Drogenbaron, als den ihn die Staatsanwaltschaft in ihrem Eröffnungsplädoyer charakterisieren wird. Als ihn die US Marshals um kurz vor zehn in den Gerichtssaal führen, begrüßt er sein dreiköpfiges Verteidigerteam mit Handschlag und winkt überschwänglich in Richtung seiner Frau Emma Coronel Aispuro, die im Zuschauerbereich sitzt. Eine Umarmung hatte Richter Cogan in der vergangenen Woche aus Sicherheitsgründen untersagt.
Guzmán trägt zum dunkelblauen Anzug eine hellblaue Krawatte. Seine Haare, die bei der Überstellung in die USA noch kurzgeschoren waren, sind nachgewachsen. Zwei Übersetzer helfen ihm zu verstehen, was vor Gericht passiert - "El Chapo", der Kurze, muss zu ihnen hochgucken.
Seiner Selbstsicherheit tut das keinen Abbruch. Die persönliche Ansprache des Richters erwidert er mit einer Geste, die an einen militärischen Salut erinnert. Im Saal sorgt das für Gelächter. Doch ein mexikanischer Kollege klärt auf: Der Gruß sei typisch für Sinaloa, jenen Bundesstaat im Nordwesten Mexikos, aus dem das Sinalao-Kartell hervorgegangen ist, das unter Führung des Angeklagten zu einem der gefährlichsten Drogensyndikate der Welt geworden ist. Es ist die Heimat von Joaquín Guzmán. In Sinaloa verehren sie Malverde, den Schutzpatron der Narcos, der Drogenhändler. "El Chapos" Salut vor dem Richter - eine Gebärde des kriminellen Machismo, sie ist wohl als Respektsbekundung zu verstehen. Oder auch nicht. Sie zeigt vor allem: Guzmán hat nicht vor, sich den Gepflogenheiten der amerikanischen Gerichtsbarkeit anzupassen.
Für Staatsanwalt Adam Fels passt das ins Bild. Er zeichnet in seinem Eingangsstatement das Bild eines Mannes, der nur ein einziges Gesetz kennt: sein eigenes. Vom kleinen Marihuana-Dealer habe sich Guzmán hochgearbeitet zur zentralen Figur im Drogenhandel zwischen Kolumbien, Mexiko und den USA. Er habe den Rauschgiftschmuggel in die Vereinigten Staaten professionalisiert. In Hochzeiten hätten täglich zehn bis 15 Flugzeuge die Grenze überflogen, randvoll mit Kokain. "El Chapo" habe sich so einen zweiten Spitznamen verdient: "El Rapido", der Flotte.
Ein Netzwerk aus Schmugglern, Piloten, Killern und korrupten Beamten
Gemeinsam mit seinem Geschäftspartner Ismael Zambada, genannt "Mayo", habe Guzmán über Jahrzehnte das Sinaloa-Kartell gelenkt. Die beiden, so Fels, hätten ein Netzwerk aus Schmugglern, Piloten, Killern und korrupten Beamten unterhalten. Beweisen will die Staatsanwaltschaft all das unter anderem mit Videoaufnahmen, die auch zeigen sollen, wie "El Chapo" selbst folterte und tötete.
Für die Verteidigung ist die Anklage dagegen ein perfider PR-Coup. Ihr Mandant der "größte Preis, den sich die Staatsanwaltschaft erträumen konnte". Joaquín Guzmán sei nicht der größte Drogendealer in der Geschichte der Welt. "Er ist noch nicht mal der größte Drogendealer Mexikos", sagt Anwalt Jeffery Lichtman und spricht von seinem Mandanten als Sündenbock und einer Verschwörung auf höchster politischer Ebene.
Es geht um Schmiergeldzahlungen an mexikanische Präsidenten, auch an den amtierenden Präsidenten Peña Nieto. Dieser und andere führende Politiker hätten vom Kartell Schmiergeldzahlungen in Millionenhöhe angenommen, behauptet Guzmáns Verteidiger. "Das ist schockierend. Ich bin nicht froh darüber, Ihnen das erzählen zu müssen", pathetisiert Anwalt Lichtman und erinnert dabei rhetorisch an den amtierenden US-Präsidenten.
Noch während Lichtman mit seinem Eröffnungsplädoyer fortfuhr, sieht sich der mexikanische Regierungssprecher Eduardo Sánchez offenbar dazu genötigt, die Vorwürfe via Twitter als "komplett falsch und diffamierend" zurückzuweisen.
Am späten Nachmittag beendet Richter Cogan die Ausführungen der Verteidigung vorzeitig, Lichtman soll am nächsten Verhandlungstag weiterreferieren.
Für den Journalisten Miguel Angel Vega ist der Tag eine Enttäuschung. Er ist extra aus Mexiko-Stadt nach New York gekommen, seine Zeitung Ríodoc berichtet ausschließlich über den Drogenkrieg. Vega wollte "El Chapo" persönlich erleben, stattdessen hat er den Tag in einem Gerichtssaal mit Videoübertragung zugebracht. Wahrscheinlich sei all das kein Zufall, sinniert er. Der Regen, das vergebliche Anstehen, der frühzeitige Abbruch. Schließlich sei heute Dienstag, der 13. - in Mexiko ein Unglückstag.