Chicago:Wie ein Schlagloch zur Attraktion wurde

Lesezeit: 2 min

Starb hier eine Ratte? Ein Eichhörnchen? Oder ist das einfach nur ein ganz normales Loch auf einem ganz normalen Bürgersteig? Das "Chicago Rat Hole" ist zum Pilgerort geworden. (Foto: Tyler Pasciak LaRiviere/Chicago Sun-Times/AP)

Ist einfach nur der Bürgersteig ramponiert oder steckt mehr dahinter? Der absurde Kult um das "Chicago Rat Hole" beschäftigt eine Stadt - und zeigt dem Rest der Welt, wozu Langeweile gut sein kann.

Von Marcel Laskus

"Langeweile ist die Wurzel allen Übels", hat der dänische Philosoph Søren Kierkegaard einmal gesagt. Seine Annahme stimmt grundsätzlich, jedenfalls meistens. Manchmal aber, wenn die Sterne richtig stehen, wenn Netflix und Amazon Prime leer geschaut sind oder man "Ja" statt "Nein" gesagt hat zu diesem einen, allerletzten Schnaps, ja dann kann Langeweile zu einer Triebfeder werden, kann in etwas münden, das vielleicht nicht gleich den Weltenlauf verändert, aber immerhin Wikipedia-Artikel entstehen und die Leute durchdrehen lässt im allerbesten Sinne. Zeuge einer solchen Begebenheit kann der interessierte Teil der Menschheit derzeit in Chicago werden: Vor zwei Wochen glaubten dort erst ein paar und bald sehr viele Leute, in einem Schlagloch die Umrisse einer Ratte zu erkennen. Und das ist noch das Gewöhnlichste an dieser Geschichte.

Begonnen hat alles vermutlich mit dem unbarmherzigen Wetter im Norden der USA. Regen, Schnee und Kälte müssen irgendwann in den Bürgersteig auf der West Roscoe Street ein Loch gefräst haben. Wie lange das Loch unterhalb jeder Wahrnehmungsschwelle geblieben ist, lässt sich höchstens über bislang nicht der Öffentlichkeit zugänglich gemachte Aufnahmen von Überwachungskameras feststellen; manch Anwohner sagt gar, das Loch existiere bereits seit mehr als 20 Jahren.

Die "New York Times" erklärte das Loch zum "Stonehenge Chicagos"

Jedenfalls fiel dem in Chicago ansässigen Comedian Winslow Dumaine das Loch eines Tages auf, er machte ein Foto davon, veröffentlichte es am 6. Januar bei X und versah es mit den Worten: "Musste eine Pilgerreise zum Chicago Rat Hole machen." Er beschrieb damit das, was in den darauffolgenden Tagen erst seine paar Follower und inzwischen fünf Millionen Betrachter seines Fotos ähnlich sehen sollten wie er: Ja, verdammt, dieses Loch hat die Form einer Ratte!

Nun passierte kollektiv das, was Gerhard Polt wohl mit "Ich sinnlose vor mich hin ... und das mit Begeisterung!" meinte. Die Bürgerinnen und Bürger Chicagos fanden sich am Loch zusammen, sie warfen Münzen hinein, stellten Zigaretten, Käse und Kinderspielzeug daneben auf, als gäbe es einen Rattenkönig, dem man Tribut zollen muss. Das Loch wurde zur Attraktion. In der Zwischenzeit schaltete sich die Fachwelt der Biologen und Betonforscher ein: Ob es sich bei den Umrissen wirklich um die einer Ratte handelt oder vielleicht eher um die eines Eichhörnchens? Ann Williams, für Chicago zuständige Lokalpolitikerin im US-Bundesstaat Illinois, sagte, das Loch sei "das Juwel des 11. Distrikts", während die New York Times das Loch zum "Stonehenge Chicagos" erklärte, weil niemand wisse, wie das Loch wirklich entstanden ist.

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Die Menschen schienen sich in jenen Tagen dieser tristen ersten Januarhälfte rührend einig zu sein in ihrem dadaistischen Blick auf das Chicago Rat Hole. So blieb es jedoch nur bis zum vergangenen Freitag, als ein Naturgesetz eintrat, das sich selbst und gerade in solchen Momenten nicht verhindern lässt: Dort, wo Menschen Spaß haben, ist ein Spaßverderber nicht weit.

Jemand, dessen Identität bislang ungeklärt blieb, betonierte das Loch zu. Die Stadt, der man Untätigkeit beim Ausbessern von Schlaglöchern noch drei Wochen zuvor als Beleg für ihre Dysfunktionalität vorgeworfen hätte, stritt jede Beteiligung an der Reparatur vehement ab.

Eine Frau, die anonym bleiben wollte, befreite das Rattenloch wieder von der Betonfüllung. (Foto: Tyler Pasciak LaRiviere /Chicago Sun-Times via AP)

Und wieder dauerte es nicht lange, bis die Geschichte ihre nächste Volte nahm. Engagierte Anwohnerinnen und Anwohner akzeptierten nicht, dass ihr Pilgerort nun nicht mehr existieren sollte. Mit Schabern und anderen Hilfsmitteln legten sie noch am selben Tag das Loch wieder frei. Lokalpolitikerin Williams kommentierte das mit einem völlig angemessenen Level an Pathos: "Darum geht es in einer Gemeinschaft." Das Chicago Rat Hole lebt.

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