Berlin:Schluss mit den Wimmelwürmern

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Seit mehr als 30 Jahren sind die Sitzbezüge im Berliner Nahverkehr ein buntes Durcheinander. Schön sind sie nicht, aber sehr praktisch, denn sie halten Vandalen vom Kritzeln ab. (Foto: Britta Pedersen/picture alliance/dpa)

Die Berliner Verkehrsbetriebe mustern ihre schrillen Sitzbezüge aus. Doch das stößt auf Widerstand - das Design ist längst Kult.

Von Verena Mayer, Berlin

Eine Frage, die man sich in fast allen öffentlichen Verkehrsmitteln stellt, lautet: Warum muss das, worauf man sitzt, so aussehen, wie es aussieht? Beziehungsweise: Warum sind in einer Welt, in der vom öffentlichen Raum bis zum Sexspielzeug alles durchdesignt ist, ausgerechnet die Flächen, auf denen man einen nicht unerheblichen Teil des Tages absitzt, dermaßen hässlich? Die Antwort ist einfach und überall auf der Welt gleich: um Vandalismus zu verhindern.

Wildgemusterte Bezüge in schrillen Farbkombinationen, so weiß man seit den Siebzigerjahren, halten die Leute davon ab, etwas auf die Sitze zu malen oder zu schreiben, während etwa dunkle Kunstledersitze fast schon eine Aufforderung sind, sich darauf zu verewigen. Es handelt sich gewissermaßen um die umgekehrte Broken-Windows-Theorie, der zufolge die Zahl der Straftaten dort zunimmt, wo schon vieles kaputt ist: Je schlimmer ein Sitz im öffentlichen Personennahverkehr aussieht, desto sauberer bleibt er.

Allerdings gibt es Abstufungen. Berlin dürfte mit seinen Sitzen in U-Bahnen, Trams und Bussen einen Spitzenplatz belegen. Die sind überzogen mit einem Muster aus wurmartigen Gebilden in Rot, Blau, Weiß und Schwarz, die sich ineinander kringeln und bei längerem Hinsehen einen ähnlichen Effekt haben wie optische Täuschungen: Es wird einem leicht schwummrig.

Die neuen Sitze sind dezent schwarz-grau

Dass die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) mit ihrem Textilmuster namens "Urban Jungle" ein besonders, nun ja, augenfälliges Design gewählt haben, liegt vielleicht daran, dass in Berlin auch besonders viele Menschen das Bedürfnis haben, sich im öffentlichen Raum zu äußern - Berlin ist die Stadt der Graffitis. Tatsache ist jedoch, dass genau das eintrat, was sein Schöpfer, der österreichische Designer Herbert Lindinger, einst voraussagte: Das Muster bremse die "Lust am Bemalen von Anfang an".

Doch selbst ein Design, das nur den Zweck hat, Schlimmeres zu verhindern, überlebt sich irgendwann. Und so werden die Sitzbezüge nach mehr als 30 Jahren nun Schritt für Schritt ausgemustert. Wo auch immer ein neuer Bus oder eine neue U-Bahn zum Einsatz kommen, sitzt man nun auf dezent schwarz-grauen Sitzen mit "Nachtlinien-Muster".

Ein Sneaker mit dem Muster eines Nahverkehrssitzbezuges? Läuft. Zumindest in Berlin, da bildeten sich zum Verkaufsstart lange Schlangen. (Foto: Overkill/dpa)

Doch das ist vielen auch wieder nicht recht. Denn mit den Berliner Wimmelwürmern ist passiert, was mit fragwürdigen Dingen oft passiert: Sie wurden Kult. Es gibt Handyhüllen, Leggins und Turnbeutel mit dem Würmchenmuster, das auch schon mal liebevoll "Berliner Burberry" genannt wird, und als die BVG vor einigen Jahren einen gemusterten Sneaker für 180 Euro herausbrachte, den man auch als Jahreskarte nutzen konnte, standen so viele Leute über Nacht Schlange, dass die Polizei anrücken musste.

Der Hype um die Würmchen hatte auch einen Rechtsstreit zur Folge, über den die Berliner Zeitung berichtete. Denn die Verträge zur Nutzung des Musters, die seinerzeit zwischen dem Designer und der BVG geschlossen wurden, umfassten keine U-Bahnen und schon gar keine Merchandising-Artikel, argumentiert der Anwalt des Erfinders. Dementsprechend seien Lizenzgebühren fällig. Das Verfahren läuft noch, die BVG will sich dazu nicht äußern. Eine Sprecherin sagt nur, dass die Wimmelwürmer nicht sofort verschwinden würden. "Keiner muss Angst haben, dass das Muster morgen nicht mehr da ist."

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