Wundersame Welt der Pflanzen:Die Kraft der Quinoa

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Gudrun Kadereit ist neue Direktorin der Botanischen Staatssammlung samt Garten. Sie entlockt Pflanzen ungeahnte Geheimnisse

Von Martina Scherf

Sie hat ein ganzes Gewächshaus voller Pflanzen mitgebracht bei ihrem Umzug von Mainz nach München. Gudrun Kadereit schließt das Glashaus auf und sagt fast ein wenig entschuldigend: "Sie sind nicht besonders hübsch." Kein ausladendes Grün, keine extravaganten Blüten. Auf der einen Seite viele dürre Stauden, auf der anderen Seite aber auch Gewächse mit dicken Blättern, die auf den zweiten Blick eine spröde Schönheit zeigen. "Sie sind noch ein wenig gestresst vom Ortswechsel", sagt die Botanikerin, "aber sie sind wahre Überlebenskünstler." Crassulaceae, die Dickblättrigen, und Amaranthaceae, die Fuchsschwänzigen, gehören zu Kadereits Spezialgebiet. Sie verfügen über erstaunliche Fähigkeiten, wie man gleich erfahren wird.

Gudrun Kadereit. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Der Botanische Garten ist seit Kurzem wieder geöffnet, allerdings nur das Freigelände. Die Gewächshäuser müssen wegen der Corona-Vorschriften noch geschlossen bleiben. Das verstehen manche Münchner nicht, die immer wieder kommen, um das Blühen, Knospen und Reifen der tausenden heimischen und exotischen Pflanzen zu verfolgen. Sie schreiben dann mürrische E-Mails, "aber ich kann es ja leider nicht ändern", sagt die Direktorin. Immerhin, die Farbenpracht im Freigelände ist jetzt im Frühling beeindruckend. Auch wenn es viel zu kalt ist, blühen Blauregen, Rhododendren, Pfingstrosen. Die Gärtner sind rund um die Uhr beschäftigt.

Gudrun Kadereit, die im Januar von der Universität Mainz kam, ist aber nicht nur Direktorin des Gartens. Die Professorin leitet die Botanische Staatssammlung München und den Lehrstuhl für Systematik, Biodiversität und Evolution der Pflanzen an der Ludwig-Maximilians-Universität. Sammeln, Forschen, Lehren - diese Verbindung hat in München eine lange Tradition. Schon vor mehr als 200 Jahren übergab König Max I. sein Naturalienkabinett der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Dann wurde der Botanische Garten gegründet, die Forscher trugen über die Jahrzehnte immer mehr Fundstücke bei, und heute gehört das Herbarium mit seinen mehr als drei Millionen Exemplaren getrockneter und gepresster Pflanzen und Pilze zu den bedeutendsten Sammlungen weltweit.

Sammeln, pflanzen, forschen und lehren, das hat in München eine lange Tradition. (Foto: Alessandra Schellnegger)

"Ein großartiges Erbe", sagt Gudrun Kadereit, 52, als sie jetzt am kleinen Besprechungstisch in ihrem Büro Platz nimmt. Und seine Bedeutung werde immer größer. Manch einer fragte sich früher angesichts der riesigen Schränke voller vertrockneter Pflanzen im Keller: Braucht man das alles noch? "Doch heute können wir die Schätze erst richtig heben", sagt Gudrun Kadereit. Mit DNA-Analysen lassen sich aus den getrockneten Blüten und Stängeln ungeahnte Erkenntnisse gewinnen. Nicht nur zu Biodiversität und Evolution, auch Ereignisse wie der Reaktorunfall in Tschernobyl, der Krieg in Afghanistan, Dürreperioden oder Vulkanausbrüche sind in den Genen oder anderen Molekülen der Pflanzen gespeichert.

Pflanzen lassen sich ungeahnte Geheimnisse entlocken. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Susanne Renner, Kadereits Vorgängerin als Direktorin, untersuchte Melonensamen, die man in einem Pharaonengrab in Ägypten fand. Die beiden Frauen kennen sich, seit sich Gudrun Kadereit, die damals noch Clausing hieß, als junge Doktorandin in Mainz bewarb. Renner war dort Professorin. Die junge Frau sei damals mit höchsten Empfehlungen aus Göttingen gekommen, erinnert sich Renner, "und man spürte sofort: Das ist eine no-nonsense Frau mit ungeheurer Zielstrebigkeit. Klug, bescheiden, charmant." Renner, die heute in den USA lebt, neigt zu Anglizismen. Mit no-nonsense meint sie: Gudrun Kadereit geht es ausschließlich um Wissenschaft. Sie neigt überhaupt nicht zur Selbstdarstellung.

Blütenpracht im Botanischen Garten München. Hier eine Pfingstrose. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Die Biologie ist ihre Leidenschaft, sagt Kadereit, die auf dem Land in Niedersachsen aufgewachsen ist. Sie will die wundersame Welt der Pflanzen entschlüsseln, die so viel über die Evolution erzählen kann. Für ihre Diplomarbeit an der Universität Göttingen ging sie als junge Biologin nach Brasilien; sie wollte unbedingt an tropischen Pflanzen forschen. Es ging darum, wie sich der Regenwald nach der Rodung regeneriert und welche Rolle die Landwirtschaft spielt. Während der Promotion in Mainz lernte sie dann Joachim Kadereit kennen, ebenfalls Biologe. Seither teilen sie die Leidenschaft für Botanik und das Leben. Während der Doktorarbeit kam das erste Kind, in der Endphase des Schreibens war sie wieder schwanger. Zwei weitere Kinder folgten, und bald ging die ganze Familie in den Ferien auf Expedition. Im Camper fuhren sie Europas Küsten ab, das Pflanzen sammeln und bestimmen gehörte immer dazu.

Im Herbarium lagern getrocknete Pflanzen aus aller Welt. Dank Genanalysen liefern sie Erkenntnisse über Ereignisse der Weltgeschichte wie Kriege, Vulkanausbrüche, Reaktorunfälle. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Den Spagat zwischen Kindern und Karriere habe sie nie als Überforderung empfunden, sagt sie rückblickend und lächelt dabei gelassen. Ihr Mann habe sie stets unterstützt. Sie sei immer schneller gewesen als andere, sagt ihre einstige Chefin Susanne Renner. "Sie gab ihre Arbeit meistens vor dem offiziellen Termin ab." Ja, rückblickend habe es sich gelohnt, sagt Kadereit, "auch mal auf Vorschuss Leistung zu bringen." Manchmal habe sie viel Energie investiert, ohne zu wissen, ob das geplante Projekt je gefördert werden würde. Als Nachwuchswissenschaftler lebt man ja viele Jahre mit dieser Unsicherheit, hangelt sich von Zeitvertrag zu Zeitvertrag. Aber wenn das Forschen Spaß macht, ist es keine Belastung, sagt Kadereit. "Und wenn ich nachts über meinen Büchern brütete, hatte ich gleich Ideen für ein neues Projekt."

Mit ihren vier Kindern verbrachte Familie Kadereit ein Forschungsjahr in Berkeley, Kalifornien. Manchmal publizierte das Ehepaar auch gemeinsam oder ging auf Exkursion mit Studenten. Gudrun Kadereit wurde Professorin in Mainz und blieb, bis die drei älteren Kinder aus dem Haus waren. Dann kam der Ruf aus München. Der Familienrat beschloss: Das machst du. Jetzt fährt sie am Wochenende nach Hause zu ihrem Mann und dem Jüngsten, der auch bald Abitur macht.

Und was ist nun das Besondere an den Fuchsschwänzigen, den Dickblättrigen und ihren Verwandten, zu denen auch Nutzpflanzen wie Amaranth, Quinoa, Zuckerrübe und Spinat gehören? Sie passen sich erstaunlich gut an extreme Lebensbedingungen an, sagt Kadereit. An Hitze, Salz oder Trockenheit, sie saugen sogar Schwermetalle aus dem Boden, ohne selbst dabei kaputt zu gehen. Wie genau sie den Stress aushalten, erforscht Gudrun Kadereit schon seit vielen Jahren. Diese Pflanzengruppen haben komplexe Photosynthesetypen entwickelt. Fachleute sprechen von C4-Photosynthese und von CAM-Photosynthese, das sind molekularbiologisch und physiologisch komplizierte Vorgänge. Aber eines steht fest: Sie sparen dadurch Wasser und Energie. "Eigenschaften, die wir angesichts des rasanten Klimawandels dringend benötigen", sagt Kadereit.

Weil sich damit Hoffnungen verbinden, womöglich klimaresistente und ertragreiche Nutzpflanzen züchten zu können, fließt viel Geld in die experimentelle Forschung, sagt Kadereit. Die Bill-Gates-Stiftung investiere Millionen, um einen C4-Reis zu entwickeln. Die Biologin selbst ist eher skeptisch, ob sich die Pflanzen tatsächlich so leicht manipulieren lassen. "Ich halte es für sinnvoller, den breiten Genpool, den wir haben, zu erhalten, als neue Turbopflanzen zu züchten."

Natur bewahren statt Bioengineering. Das entspricht auch ihrem privaten Lebensstil. Sie esse wenig Fleisch, sagt sie, kaufe bio und vor allem regional. "Wir können durch unser Verhalten beeinflussen, welche Art der Landwirtschaft wir wollen."

Von ihrem Büro aus hat sie einen schönen Blick in den Garten. Gudrun Kadereit will ihre Doktoranden anregen, dort auch Führungen zu machen. Wissenschaftskommunikation wird immer wichtiger, "und von der Auseinandersetzung mit der Öffentlichkeit profitieren ja beide Seiten." Sie hat auch schon Ideen, um ihre stressresistenten Pflanzen im Garten weiter zu entwickeln. Aber noch dürfen die sich im Gewächshaus in aller Ruhe an das Münchner Klima gewöhnen.

© SZ vom 29.05.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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