Pionier der Bergwelt:"Ich muss aber hinauf"

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Vor 175 Jahren wurde Hermann von Barth auf Schloss Eurasburg geboren. Der Jurist hat in wenigen Jahren systematisch die Berge am nördlichen bayerischen Alpenrand bestiegen, 88 Karwendelgipfel allein im Sommer 1870. Mit 31 Jahren hat er sich in Afrika das Leben genommen.

Von Benjamin Engel, Eurasburg

Die rau-faszinierende Wildnis des Karwendel ist im Vomper Loch für die Wanderer selbst heute noch zu spüren. In einem Seitenarm des Tiroler Inntals nahe der Stadt Schwaz hat sich der Bach tief in das bayerisch-österreichische Grenzgebirge eingeschnitten. Vom Grund ragt der Fels bis zu weit mehr als tausend Meter nach oben.

Wie klein sich der Mensch darin fühlen mag, hat Hermann von Barth vor 150 Jahren treffend, wenn auch für heutige Zeitgenossen ein wenig pathetisch beschrieben. In seinem Buch "Aus den Nördlichen Kalkalpen" schildert er eine Nacht im Vomper Loch zwischen sich zu fantastischen Gestalten aufbauschenden Wolkenformationen und dem Mond, der die "zerspaltenen Wände" in grelles Licht hüllt. "In diesen, in dieser Umwallung unnahbarer Wände und Zinnen, in dieser pfadlosen Welt der Zerstörung wäre wohl des Höllenfürsten würdigste Residenz!"

Wo sich heute in manchen Karwendel-Tälern massenhaft Touristen drängen, war Hermann von Barth 1870 allein - bis auf wenige Schaf- und Kuhhirten sowie Jäger. Der studierte Jurist war gerade 25 Jahre alt geworden, als er in jenem Sommer ganze 88 Karwendelgipfel bestieg. Zwölfmal war er sogar als erster ganz oben, wie etwa auf der Kaltwasser-, der östlichen Karwendel- oder der Vogelkarspitze. Im deutschen Alpenraum zählt Barth damit zu den Bergsteiger-Pionieren. Ab 1868 erkundete der auf Schloss Eurasburg geborene Barth systematisch die Gebirge am nördlichen Alpenrand von Berchtesgaden bis ins Allgäu hinein. Doch ihm sollte nur noch wenige Lebenszeit bleiben. 1876 starb er mit nur 31 Jahren auf einem anderen Kontinent fernab der Heimat.

Die Familie Barth zählte zu einem alten bayerischen Patrizier- und Adelsgeschlecht. Im Harmatinger Stammsitz bei Ascholding leben heute noch Nachfahren. Vor fast genau 175 Jahren wurde Hermann von Barth am 5. Juni 1845 auf Schloss Eurasburg geboren. Dort wuchs er als ältester von vier Brüdern auf. 1857 verkaufte sein Vater das Schloss. Die Familie zog nach München. In der Residenzstadt studierte Barth Jura, trat der Verbindung Corps Franconia bei. Auch wenn das städtische Leben noch so interessant gewesen sein mag, zog es den jungen Mann raus in die Natur. Als er 1868 als Rechtsreferendar am Berchtesgadener Landgericht zu arbeiten begann, war er den Bergen ganz nah. Vom Ort im südöstlichen Zipfel Bayerns unternahm er zunächst ausgedehnte Wanderungen in den umliegenden Bergen.

Das Milieu, aus dem Barth stammte, war typisch für viele Bergsteiger aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Auf den Mitgliederlisten des 1869 in München gegründeten Deutschen Alpenvereins (DAV) finden sich viele akademisch Gebildete und weitere Angehörige des gehobenen Bürgertums. Sie hatten die nötige Zeit und das Geld, um ihre Tage im Gebirge verbringen zu können. Zwei Aspekte heben Hermann von Barth aber aus der Menge der Bergbegeisterten seiner Zeit heraus. Sein 1874 veröffentlichtes Buch "Aus den nördlichen Kalkalpen" mit 661 Seiten ist eine der wenigen großen Abhandlungen über diese Gebirgsregionen. "In dieser Zeit waren andere, höhere Gipfel eher im Blickfeld", sagt Stephanie Kleidt. Die Kunsthistorikerin hat die Ausstellung "Die Berge und wir" zum 150-jährigen Bestehen des DAV im Alpinen Museum mitkuratiert. Im gleichnamigen Katalog folgt sie den Spuren Barths am Allgäuer Hochvogel.

Die Kalkalpen im Norden, so erläutert Kleidt, seien als Voralpen bezeichnet worden. Viele hätten damals die Nase gerümpft, warum überhaupt jemand dort zum Bergsteigen unterwegs sein wollte. Naturwissenschaftlich exakt beschrieb er insbesondere die Geologie. "Seine Akribie und Systematik ist wirklich bemerkenswert", berichtet Kleidt. Barth habe jeden Gipfel besteigen wollen, manchmal sogar zwei Touren an einem einzigen Tag unternommen. "Mit Fug und Recht kann man ihn als den Erforscher des Karwendelgebirges bezeichnen", sagt Kleidt.

Hinzu kommt, dass Barth zumeist alleine unterwegs war. Auf einen Führer verzichtete er bei seinen Touren, was Zeitgenossen als unverantwortlich und gewissenlos kritisierten. Bewusst in Gefahr begeben habe sich Barth aber nicht wollen, schildert Kleidt. Vielmehr habe der Bergsteiger stets darauf verwiesen, dass er Gipfel besteigen wolle, auf denen noch niemand gestanden habe. Deswegen könne ihm ein Führer auch nicht helfen, weshalb er allein gehen müsse. Durch seine Unternehmungen wurde der Eurasburger aber laut Kleidt zum Vorbild führerlosen Bergsteigens. Dass er dazu in der Lage gewesen sei, begründe seinen Stellenwert unter Alpinisten bis heute.

In wenigen Jahren war Barth scheinbar rastlos im Gebirge unterwegs. 1869 wechselte er nach Stationen in Traunstein und München an das Bezirksgericht Sonthofen. In wenigen Monaten erklomm er 44 Gipfel, unter anderem den Hochvogel. Nach dem Jahr in den Bergen des Karwendels war er schließlich im Wettersteingebirge unterwegs. "Zur Kenntnis unserer Alpen beizutragen, war seit jeher ein Lieblingsgedanke von mir gewesen", schreibt er im Vorwort seines Buches "Aus den nördlichen Kalkalpen". Jahr für Jahr habe er eine einzelne naturgemäß umgrenzte Gruppe der nördlichen Kalkalpen sich erlesen und erwandert. Wenig kenne er in den Alpen, aber was er kenne, sei ihm im vollen Sinne des Wortes bekannt.

Sein Buch solle für den Bergsteiger, der selten erreichte Ziele zu gewinnen strebe, ein Leitfaden der Kunst sein, mit starren Felsgestalten zurechtzukommen. "In die Thäler und Kare des Karwendel, an den massiven Stöcken der Mieminger Berge hinauf dringt wohl selten der touristische Schritt." Packend schreibt der Bergsteiger von schmalen Grasbändern und Felsgesimsen, an denen er sich um Ecken und an Klüften über dem Abgrund entlang hangelt.

Mit dem langen Bergstock und seiner hochgewachsenen Statur muss er laut der Ausstellungskuratorin Kleidt nicht nur allein körperlich eine "imposante Figur" abgegeben haben. Mehr als Schuhe mit genagelten Sohlen, ein Fernrohr und einen Rucksack hatte er als Ausrüstung nicht. Manchmal orientierte er sich am Zug der Gemsen für den weiteren Gipfelaufstieg. Zudem muss ihn eine unbändige Energie angetrieben haben. Das zeigt eine kurze Schilderung zur Erkundungstour für den Aufstieg zum Risser Falken im Karwendel. Dort teilt er einem Schafhirten mit, dass ihm der Berg höchst unzugänglich erschienen sei. Die "phlegmatische Reaktion" des Mannes: "Dann werde man wohl auch nicht hinaufkommen." Hermann von Barths Antwort: "Ich muss aber hinauf."

Es sind solche Schilderungen menschlicher Begegnungen, die die Texte des Bergsteigers immer wieder auflockern. Anfangs blieben die Versuche, seine Aufzeichnungen für ein größeres Publikum zu veröffentlichen, weitgehend erfolglos. Im Jahr 1872 beginnt Barth Naturwissenschaften zu studieren. Dafür gab er sogar das Bergsteigen auf. Doch dann fragt ihn der Amthor Verlag aus Gera für eine Veröffentlichung an. Das Hauptwerk "Aus den nördlichen Kalkalpen" entsteht.

Für das Leben Barths bedeutet dies eine Zäsur. 1875 promoviert er, legt in Paläontologie, Geologie und Mineralogie seine Prüfungen ab. In denselben Jahren veröffentlicht er ein Nachschlagewerk über Forschungsreisen in Afrika. Schließlich sucht die "Geographische Gesellschaft München" nach einem bayerischen Wissenschaftler, der eine Expedition in Europas südlichen Nachbarkontinent begleiten soll. Hermann von Barth wird ausgewählt und schifft sich nach Angola ein. Dort erkrankt er schwer. Am 7. Dezember 1876 soll er sich vollkommen erschöpft erschossen haben.

Von ihm bleiben über das dramatische Lebensende hinaus ein Denkmal im kleinen Ahornboden, der Barthgrat und die Barthspitze im Karwendel, die nach ihm benannte Hütte in den Allgäuer Alpen und ein seinen Namen tragender Klettersteig im Wettersteingebirge. Und das Zeugnis eines tiefen Gespürs für mystische, fast metaphysische Empfindungen, etwa wenn er in einer Nacht auf dem Allgäuer Hochvogel von wundersamen Melodien schreibt, die der Sturmwind erzeugt und umflorte Nebelgestalten schildert, die durch das Sternengefunkel dahin schweben. Der Journalist Georg Bayerle wird darin an das sogenannte Runner's High moderner Alpinisten erinnert, jenen euphorischen Zustand, bei dem bei großer körperlicher Anstrengung Endorphine ausgeschüttet werden und den Sportler in einen Rausch versetzen.

© SZ vom 30.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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