Kochel am See:"Der Heimatbegriff ist für Verschwörungserzählungen sehr anfällig"

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Judith Bodendörfer (links) und Julia Davis von der Georg-von-Vollmar-Akademie bringen für das neue Netzwerkprojekt gegen Verschwörungsmythen Expertinnen und Experten unterschiedlicher Fachrichtungen zusammen. (Foto: Harry Wolfsbauer)

An der Georg-von-Vollmar-Akademie erstellt Judith Bodendörfer eine Beratungsplattform für Mitarbeiter in der Erwachsenenbildung. Die soll helfen, Kursteilnehmer zu erreichen, bevor sie sich radikalisieren.

Von Veronika Ellecosta, Kochel am See

Gegen Verschwörungsmythen schreiben Zeitungen an, Faktenchecker und Bundeskampagnen klären auf. Forscherinnen und Forscher verschiedener Fachrichtungen befassen sich damit, wie sie funktionieren. Judith Bodendörfer ist eine von ihnen: Als Religionshistorikerin mit Schwerpunkt Esoterik untersuchte sie bisher vor allem die Geschichte esoterischer Ideen und Gruppierungen. Dann kam Corona, und auch die Menschen außerhalb ihrer Fakultät hätten sich vermehrt für das Thema interessiert, erzählt sie. Also hat die Münchnerin einen Podcast aufgenommen: "Die Alternative Aufklärung" heißt er. Darin erklärt sie sie die historischen Hintergründe, weshalb Impfskeptiker, Veganerinnen und Rechtsextreme Schulter an Schulter gegen Coronamaßnahmen protestierten.

Sie sei immer schon an der praktischen Anwendbarkeit ihrer Forschung interessiert gewesen, sagt Bodendörfer. Kürzlich ist sie deshalb von der Ludwig-Maximilians-Universität in München an die Georg-von-Vollmar-Akademie in Kochel gewechselt. An dieser historischen Stätte für politische Erwachsenenbildung im Geiste der Sozialdemokratie baut die Religionshistorikerin nun ein Netzwerk gegen Verschwörungserzählungen auf. Menschen, die in der Bildungsarbeit tätig sind, sollen sich in Zukunft über eine Website zu Beratungsangeboten informieren können, wenn sie sich während ihrer Arbeit mit Verschwörungsmythen konfrontiert sehen. Das Projekt wird von der Bundeszentrale für politische Bildung gefördert.

Beratungsangebote richten sich kaum an Gruppenleiter

Die Georg-von-Vollmar-Akademie, die hoch über dem Kochelsee am Aspensteinbichl thront, hat Seminare über Verschwörungserzählungen schon vor einigen Jahren in ihr Bildungsprogramm aufgenommen. 2020 wurde das Thema groß, erinnert sich Julia Davis. Die Historikerin und Germanistin hat seit Kurzem die Leitung für die politische Bildung an der Akademie übernommen. "Besonders bei der Wahl Trump gegen Biden, wo auch QAnon erstmals in größerem Maße bekannt wurde, wuchs das Interesse. Wir wurden nahezu überrannt", erinnert sie sich.

Aber auch Leute, die Verschwörungserzählungen offen gegenüber stünden, kämen hin und wieder in die Kurse der Akademie. Das zeige manche Antwort auf Newsletter, die sie bekommen habe: "Da wurde uns vorgeworfen, dass wir dem ,Bundesregime' unterstellt sind und die Verfasser keine E-Mails mehr von uns bekommen wollen. Das lässt tief blicken." Auch, als in der Akademie zu Pandemiezeiten Veranstaltungen unter 3G-Bedingungen stattfandenen, habe es Leute gegeben, "die nicht mehr kommen wollten, weil wir uns scheinbar dem Druck der Pharmaindustrie gebeugt hätten", sagt Davis.

In Gruppen der Erwachsenenbildung würden viele Leiterinnen und Leiter mit ähnlichen Aussagen konfrontiert. Mit der Frage, wie sie darauf angemessen reagieren, würden sie jedoch oft alleingelassen. Denn: "Für die Bildungsarbeit und das Ehrenamt gibt es bisher wenig Beratungsangebote." Diese fokussierten sich eher auf das private Umfeld. "Da entstand die Idee, dass diese Leute in der Bildungsarbeit ein Netzwerk zum Austausch haben sollen", sagt Davis. Bodendörfer fügt hinzu: "Im Süden von Deutschland ist die Vernetzung zwischen Expertinnen und Experten dünn. Auch in ländlichen Regionen wird da weniger gemacht." Im Landkreis gebe es keine lokale Anlaufstelle für Beratungen zu Verschwörungsideologien.

Verschwörungsmythen auf dem Land sind anders

Wer auf dem Land in der Bildungsarbeit tätig ist, kommt Bodendörfer zufolge auch mit anderen Phänomenen in Berührung als in der Stadt. Zum Beispiel Ökologiebewegungen. Sie beobachte auch Versuche, Verbände für Heimatpflege oder Trachtenvereine zu vereinnahmen. "Der Heimatbegriff ist für Verschwörungserzählungen sehr anfällig. Das sind Probleme, die es in der Stadt nicht gibt." Ein anderes ländliches Phänomen, die Gruppierung "Anastasia", die etwa in Sachsen ganze Siedlungsgebiete schaffe, sei im bayerischen Oberland weniger eine Gefahr, "weil die Grundstückspreise so hoch sind".

In den historischen Mauern von Schloss Aspenstein über Kochel am See soll im Sommer das erste Vernetzungstreffen stattfinden. (Foto: Manfred Neubauer)

Manche Themen, die derzeit heiß diskutiert werden, drifteten immer wieder in verschwörungsideologische Richtung ab, sagt Bodendörfer - etwa der Rundfunkbeitrag. In diesem sähen manche Diskutierende den Beleg eines Mangels an Pressefreiheit oder Demokratie im Staat, dann falle auch der Begriff "Lügenpresse". Bei Wirtschaftsdiskussionen gebe es hin und wieder Anknüpfungspunkte für antisemitische Ideologien. Ein anderes Problem betreffe Desinformationskampagnen: "Da muss es gar nicht sein, dass die Menschen an Verschwörungstheorien glauben", sagt Bodenförfer. "Es reicht, Chaos anzustiften, damit sich manche Leute zurückziehen und die Haltung entwickeln: Ich glaube nurmehr, was ich sehe."

Am Anfang des Vernetzungsprojekts geht es Bodendörfer vor allem darum, Kontakte herzustellen, Expertinnen und Experten aufzuspüren und anzusprechen, ihr Wissen und die Menschen miteinander in Austausch zu bringen. Weil Verschwörungsmythen auf sehr vielen Ebenen untersucht werden können, wird auch das Netzwerk interdisziplinär aufgestellt: Mit dabei sind Publizistinnen, Literaturwissenschaftler, Soziologinnen, Theaterwissenschaftler, Psychologinnen, Religionswissenschaftler. In einem zweiten Schritt soll anschließend eine Internetseite erarbeitet werden, auf der sowohl Beratungsstellen als auch Infomaterial zu finden sind.

"Der Umgang muss immer wertschätzend sein"

Die Vernetzung in der Erwachsenenbildung sei wichtig, weil Menschen, die solche Kurse besuchten, meist noch nicht radikalisiert und gut erreichbar seien, sagt Davis. "Wir wissen von psychologischen Beratungen, dass logische Argumente gegenteilig wirken, wenn Leute zu tief drin stecken in Verschwörungsmythen", fügt Bodendörfer hinzu. Der Vorteil von Gruppen sei, dass sie auch ein Vorbild sein könnten für gelungene Gesprächskultur. Zwar könne das Gespräch in der Gruppe schnell konfrontativ werden. Andererseits aber erhielten die Teilnehmer eine Einladung, sich frei zu äußern, das Argument einer "Meinungsdiktatur" werde damit widerlegt. "Da sind die Menschen oft erstaunt", sagt Bodendörfer. "Es gibt natürlich rote Linien wie das Grundgesetz oder Diskriminierung." Aber wenn Diskussionen in der Gruppe entstünden, würde auch das Gefühl einer "schweigenden zustimmenden Mehrheit" gebrochen, sagt sie.

"Es geht darum, die Menschen noch vor der Radikalisierung abzuholen", erklärt Bodendörfer. "Dazu muss der Umgang wertschätzend sein." Von Beratungsstellen für Familien, die mit verschwörungsgläubigen Verwandten umgehen müssen, weiß sie: "Der Mensch muss seinen Selbstwert behalten dürfen, auch wenn er einen dummen Gedanken äußert. Es ist oft ohnehin schon schwer, Fehler zuzugeben."

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