Inklusion:Pädagogik im Grenzbereich

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Immer mehr Kinder mit Förderbedarf besuchen die Karl-Lederer-Grundschule in Geretsried. Die Lehrer fühlen sich allein gelassen.

Bernhard Lohr

Marla sitzt vor einem leeren Blatt. Sie hängt an den Lippen von Bettina Forster, die vor ihr auf dem Tisch ein rotes Klötzchen an das andere legt, bis eine Zehnerreihe beisammen ist. Daneben legt Forster einen blaue Zehnerstange. "Das ist genauso lang", sagt Forster und fragt. "Was können wir jetzt tun?" Marla (Kindernamen geändert) tauscht die roten Steinchen gegen die Stange aus und die Sonderpädagogin nickt. In dem Moment brüten Marlas Klassenkameraden aus der 2 a der Karl-Lederer-Grundschule in Geretsried nebenan über der Rechnung "56 + 19" und ähnlichen Aufgaben. Manche sind schnell fertig, andere verzweifeln sichtlich. "Aah, ich kapier das nicht", ruft ein Bub.

Lehrerin Heidi Dodenhöft muss in der Koop-Klasse die Schüler fördern und fordern. Wer mit seiner Rechenaufgabe schnell fertig ist, kommt in der Zimmermitte zusammen und bekommt am Boden Zusatzstoff zum Knobeln. (Foto: Manfred Neubauer)

Seit diesem Schuljahr ist Inklusion in Bayern Regierungsprogramm. Das Kultusministerium fordert die Einbindung von Kindern mit Förderbedarf oder Behinderung in die Regelschulen. Um zu zeigen, dass das klappen kann, wurden in Oberbayern elf Modellschulen ausgewählt und besonders mit Personal ausgestattet, was Schulleitung und Lehrer an der Inklusionsschule in Münsing zuletzt als unzureichend angeprangert haben. Auch andere Schulen haben die Folgen der politischen Neuausrichtung erreicht. Der Elternwille zählt. Und die Eltern wollen ihre Kinder auf der Regelschule haben, mit der Folge, dass Schulen und Pädagogen an ihre Grenzen stoßen.

Heidi Dodenhöft leitet eine sogenannte Koop-Klasse. Von 21 Kindern haben sieben anerkannten Förderbedarf. Die Diagnose reicht von der Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung bis hin zur geistigen Behinderung, bei der laut Forster sogar eine Förderschule ein Kind an eine Spezialeinrichtung weiterverweisen könnte. Lehrerin Dodenhöft hält eine Deutschprobe in der Hand, in der Marla von 26 möglichen Punkten einen erreicht hat. Sie könne doch nicht nur Sechser vergeben. Marla komme sonst in der Klasse gut zurecht. Sie befürworte die Idee der Inklusion, aber nicht unter diesen Bedingungen.

Dass an diesem Dienstag Sonderpädagogin Forster in der Klasse ist und sogar noch eine Lehrerpraktikantin hinten im Klassenzimmer an einem Tisch sitzt, ist eine große Ausnahme. Drei Stunden in der Woche kommt Forster in die Klasse. "Ich bin viel zu wenig da", sagt sie. Für Dodenhöft bedeutet das, dass sie meist hilflos zusieht, wie die Schere zwischen leistungsfähigen Schülern und denen immer weiter aufgeht, die Unterstützung brauchen.

Während Marla über roten Einer- und blauen Zehnerklötzchen sitzt, andere grübeln, wie sie die Summe aus 56 und 19 ausrechnen, werden Felix und Marco schon ungeduldig. Dodenhöft ruft kurz ins Klassenzimmer: "Ihr kriegt gleich Zusatzfutter. Ich habe da eine Knobelaufgabe." Dodenhöft muss die einen für den Übertritt aufs Gymnasium fit machen, und kämpft bei den anderen darum, diese nicht als Analphabeten von der Grundschule zu schicken. Ein nicht zu bewältigender Spagat sei das, sagt sie. Eigentlich müsste sie Proben für verschiedene Leistungsniveaus anbieten.

Individuelle Förderung und Differenzierung sind heute zentrale Themen. Die Karl-Lederer-Grundschule ist eine sogenannte Brennpunktschule mit 50 Prozent Kindern mit Migrationshintergrund. Lehrerin Barbara Süßmann in der 1 c kämpft schon mit unterschiedlichen Niveaus. Ein Bub konnte im September noch kein Wort Deutsch. Anfangs bekam er Förderstunden, mittlerweile muss er so mithalten. Süßmann versucht zu differenzieren, bietet Gruppenarbeit an, doch schon nach kurzer Zeit stehen fünf, sechs Kinder um sie herum, weil sie nicht klarkommen. Manche hätten den Text zu Ende gelesen, sagt sie, andere seien noch beim ersten Satz.

24 Schüler mit anerkanntem Förderbedarf werden an der Schule mit 375 Schülern unterrichtet, dazu kommen weitere 17 mit Verdacht auf einen solchen, wobei die Eltern eine Überprüfung ablehnen. Die meisten müssten in den normalen Klassen mitlaufen, sagt Rektorin Brigitte Leick. Die Koop-Klasse werde vom Ministerium nur für die 1. und 2. Jahrgangsstufe angeboten. Dann müsse die Inklusion von alleine funktionieren, was nicht möglich sei.

Leick sagt, jede Klasse mit Kindern mit sonderpädagogischen Förderbedarf brauche täglich ein bis zwei Stunden für Förderlehrer zusätzlich. Die Lehrer benötigten Zeit, um mit Therapeuten, Jugendamt und Ärzten zu kommunizieren. Es fehlten Gelegenheiten zur Fort- und Weiterbildung und Supervision. Leick sieht die Gefahr, dass Inklusion als Sparmodell auf dem Rücken von Lehrern und Kindern durchgezogen wird. "Wenn wir das irgendwie so hinkriegen, dann geht das auch billig." Das wäre ein fatales Signal.

© SZ vom 28.03.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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