Ickinger Ortsgeschichte:Küken und Katzen im Unterricht

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Das Gymnasium Icking hat vor 100 Jahren in einem Bauernhaus begonnen. Der große Festakt steht noch aus.

Von Benjamin Engel, Icking

Ein Gymnasium in einer Gemeinde von 3700 Einwohnern ist an sich schon ungewöhnlich. Wie sich eine von einer Elterninitiative gegründete Schule aus einem Bauernhaus heraus bis zum heutigen Bildungscampus mit vielen Trakten entwickelt hat, ist einer von zwei weiteren besonderen Aspekten. Der Zweite ist, dass der Sohn des Hauptschulgründers Alfred Vogel 100 Jahre später beim Festakt zum Jubiläum des Rainer-Maria-Rilke-Gymnasiums anwesend sein kann. Alfred Vogel - er trägt denselben Vornamen wie sein Vater - ist 1942 geboren und hat das Gymnasium selbst besucht. "Für mich ist das unglaublich spannend", sagt er. Dass er das 100-jährige Bestehen der Schule erleben könne, liege aber daran, dass sein Vater schon mehr als 60 Jahre alt gewesen sei, als er geboren wurde.

Mehr als genügend Anlässe hätte es also heuer gegeben, am Ickinger Rainer-Maria-Rilke-Gymnasium groß zu feiern. Die Pandemie aber macht das derzeit unmöglich. Daher musste sich die Schulleitung mit einem kleinen Festakt mit Grußworten von Politikern, Lehrkräften, Eltern- und Fördervereinsvertretern sowie des Schülersprechers begnügen.

Was am vergangenen Freitag im pädagogischen Zentrum der Schule anklang, machte allerdings Lust darauf, dabei zu sein, wenn das große Jubiläumsfest wie geplant im September kommenden Jahres nachgeholt werden kann. Dann wird auch der knapp halbstündige Film zur Schulgeschichte zu sehen sein, den Direktor Thomas Baumann und Oberstudienrat Stefan Berez mit der Q 12 gedreht haben. Die im P-Seminar mit Studienrätin Susanne Schäfer konzipierte Ausstellung mit Bild- und Texttafeln konzipierte Ausstellung gab den Festakt-Gästen schon einmal Einblicke in die wechselvolle Schulgeschichte.

Impulsgeber war Alfred Vogel. Der 1877 im sächsischen Pirna geborene Pädagoge war im Ebenhausener Kindersanatorium Hauslehrer und unterrichte auch Ickinger Kinder privat. 1921 hatte sich eine Elterninitiative gebildet, um eine private Schule zu gründen. Die sollte Vogel leiten und die Kinder nach humanistischen Wertegrundsätzen ohne körperliche Züchtigung unterrichten.

Von den bescheidenen Anfängen im Nordzimmer eines Bauernhauses berichtete Gymnasiumsleiter Stefan Nirschl. "Es soll nicht unüblich gewesen sein, dass Küken und Katzen einen Besuch im Unterricht abstatteten." Nirschl nannte es eine Art Wunder, dass sich aus diesen Anfängen mit 22 Kindern das heutige Gymnasium mit um die 780 Schülern samt modernen Unterrichtstrakten entwickelt habe.

Für die ersten Gebäude auf dem heutigen Standort an der Ulrichstraße hatte der damalige Ickinger Bürgermeister Johann Pischetsrieder das Grundstück laut Schulleiter Nirschl zum Vorzugspreis bereitgestellt. 1960 wurde das Gymnasium verstaatlicht. Von einem besonderen "Ickinger Geist" der Solidarität zwischen Schülern und Lehrern sprach Nirschl so wie viele der Festredner. Icking beweise, dass eine Schule nie stillstehen, sondern sich immer verändern müsse, um zu bestehen, sagte die Ministerialbeauftragte für die Gymnasien in Oberbayern-West. Brigitte Grams-Loibl zitierte aus einem Brief Rainer Maria Rilkes über die Gegend. Der Dichter beschreibt darin, wie er auf leisem Weg an durchs Moos vorbeispringenden Eichhörnchen vorbei wanderte. "Es sind hundert Mauern zwischen mir und allem Lauten", so Rilke. Dieser Blick solle auch die Schüler prägen.

Von der Schule als zentraler Ort für Persönlichkeits- und Wissensbildung und damit Basis für den Erhalt einer freiheitlichen Demokratie sprach der Dritte Landrat Klaus Koch. Während der Pandemie hätten ihn Aussagen einer gar nicht so kleinen Gruppe erschreckt, dass sie "in einer Diktatur" lebten.

Was es bedeutet, unter einem wirklichen Terrorregime zu leben, machte die von Schülern konzipierte Ausstellung erschreckend deutlich. In den 1930er-Jahren ist die Jüdin Hertha Spatz auf Fotos zwischen den Kindern der damals noch privaten Volksschule des Elternvereins Icking zu sehen. Als ihr Vater - der Viehhändler Arthur Spatz - 1934 starb, musste sie die Einrichtung verlassen, weil die Familie das Schulgeld nicht mehr bezahlen konnte. Hertha Spatz wechselte zu den Armen Schulschwestern ins Wolfratshauser Klösterl. Dort verhinderte eine fanatische NSDAP-Anhängerin, dass das Mädchen bei einer Schulaufführung auf der Bühne stehen durfte. Im November 1941 wurde die damals 19-Jährige mit ihrer Mutter und Tante ins Baltikum deportiert und in Kaunas ermordet.

Das haben die Schüler recherchiert und mit Foto akribisch dokumentiert. Archivar Peter Schweiger und Claudia Roederstein haben sie unterstützt. Das Gymnasium stehe für junges Leben in der Gemeinde, mache den Ort für junge Familien attraktiv, betonte Bürgermeisterin Verena Reithmann. Sie schlug vor, am Gymnasium eine Erinnerungstafel mit einem QR-Code anzubringen, über den sich jeder analog zu den Tafeln der Straßennamen näher zur Schulhistorie informieren könne. Die Bildungseinrichtung sei ein Zentrum des Ickinger Gemeindelebens, sagte Reithmann. "Die Schule ist für uns ein Identifikationsmerkmal."

© SZ vom 28.06.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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