Vom Isartal in die Arktis:Einsamkeit im Eis

Lesezeit: 4 min

Durchs ewige Weiß: Die Expedition von Jonas Haass in Spitzbergen. (Foto: Jonas Haass/oh)

Der Ickinger Jonas Haass führt als Arctic Tourguide auf Skiern durch Spitzbergen. Im Frühsommer hat er eine Expedition von Nord nach Süd verfilmt, die nun in die Kinos kommt. Denn im Verstehen durch Sehen sieht er einen gesellschaftlichen Auftrag.

Von Veronika Ellecosta, Icking

Dem Menschen setzt Kälte mehr zu als Hitze. Wer dauerhaft friert, bei minus zehn bis minus 15 Grad, wird langsam und antriebslos. Wer bei diesen Bedingungen in Eiswüsten unterwegs ist, stundenlang auf Skiern einen Schlitten gezogen hat, und abends noch ein Zelt aufbauen und Schnee schmelzen muss, kann den äußeren Rand der menschlichen Willenskraft erreichen.

Ein Ort mit solchen widrigen Verhältnissen ist die norwegische Inselgruppe Spitzbergen. Die Einheimischen haben diesen nördlichsten besiedelten Fleck Erde Svalbard genannt, was beinahe niedlich "kühle Küste" heißt, denn im Winter fallen die Temperaturen auf bis zu minus 35 Grad. Das ist so kalt, dass einem beim Heimweg von der Bar schon mal das Wegbier einfrieren kann. Anekdoten wie diese hat Jonas Haass, 28, von seiner Zeit in Spitzbergen mitgebracht. Er erzählt sie und kann darüber lachen. Denn die Kälte, die Eiswüste, die harten Bedingungen - Haass liebt all das.

"End to End Svalbard" heißt die Dokumentation von Jonas Haass und seinem Team. Von November an wird sie auf verschiedenen europäischen Filmfestivals gezeigt. (Foto: Moritz Krause/oh)

Der Ickinger ist vor einigen Jahren nach Spitzbergen gezogen, um sich zum Skiexpeditionsleiter, zum Arctic Tourguide ausbilden zu lassen. Während der Corona-Pandemie wohnte er mit anderen Auszubildenden dort, isoliert vom Weltgeschehen und vom grassierenden Virus. Seitdem hat ihn der hohe Norden nicht mehr losgelassen, er fährt regelmäßig hinauf. Einmal im Jahr kratzt er dafür alles zusammen, was er in seinem Beruf als Unternehmensberater in München so an Urlaub und Freistellung kriegen kann: Überstunden, bezahlte und unbezahlte Urlaubstage, abgeschlossene Projekte, Boni in Form von noch mehr Urlaubstagen. Dann packt er seine Sachen, tauscht Büro und Anzughose gegen Zelt und Parka ein und leitet Touristinnen und Touristen auf Skiern durch das Eis.

Ski und Schlitten sind in Norwegen ein altmodisches Fortbewegungsmittel: Schneller geht es heutzutage mit dem Schneemobil. Dementsprechend werden die meisten Guides mittlerweile im Bereich Schneemobil-Touren ausgebildet, aber Jonas Haass blieb bei den Skiexpeditionen. "Mich hat das immer gereizt, fernab von der Zivilisation in dieser schönen Landschaft zu sein", erzählt er. Er suche die Ruhe im hohen Norden. Während der mehrtägigen Touren komme es vor, dass man erst nach zwei Wochen das erste Flugzeug am Himmel höre. "Diese Stille ist es", sagt er.

Berge habe er immer schon vorgezogen, deshalb will er auch nicht weg aus München, wo er vor zwei Jahren aus Icking hingezogen ist. Nach der Arbeit mal schnell in die Alpen fahren, Gipfel erklimmen oder im Wintern powdern - von München aus geht das. Schon früh lernte Jonas Haass Skifahren in der Skischule Isartal, wurde dort auch Skilehrer, dann kamen Skitouren dazu, Alpinismus und Expeditionen. "Als Kind habe ich mir immer gewünscht, im Auenland zu wohnen", sagt er. "Jetzt habe ich gesehen, dass ich da tatsächlich schon wohne."

Im Eisbärenland in der Ebene muss das Zeltlager nachts immer bewacht werden. Ins Gebirge hingegen kommen die Tiere nicht. (Foto: Jonas Haass/oh)

Dass ihn seine Bergleidenschaft irgendwann nach Spitzbergen führen würde, klingt nach dem nächsten logischen Schritt. Vieles an Erfahrung hat Haass dabei aus den bayrischen Bergen mitnehmen können. Das Wissen über die Wetterlagen etwa. Denn bei Skiexpeditionen in der Arktis ist das Wetter die größte Gefahr. Aber auch unstabiles Meereis, auf dem man einbrechen kann. Die größte Herausforderung, vor allem für den Geist, bleibt aber die andauernde Kälte.

Und die Eisbären? In Spitzbergen soll es mehr der seltenen Art als Einwohner geben. Jonas Haass kennt diese Frage. "Eisbären sind kein häufiges Problem, aber sobald sie zum Problem werden, dann sind sie ein großes", sagt er. Wenn die Expedition deshalb ihr Nachtlager im Eisbärenland aufschlägt, gibt es immer eine Wache. Die Tiere können von Weitem erspäht werden, wo sie dann meist erfolgreich mit der Leuchtpistole vergrämt werden. Erst im akuten Notfall darf scharf geschossen werden. Eisbären sind streng geschützt - wer ein Exemplar tötet, wird in Norwegen angeklagt und muss vor Gericht die Selbstverteidigung erklären. Damit es nicht so weit kommt also die Nachtwache. Jonas Haass findet das richtig. Er sagt: "Das oberste Ziel muss immer sein, dass dem Eisbären nichts passiert. Wir sind Gäste, er ist dort zuhause."

Nirgendwo in der Welt ändert sich das Klima schneller als in der Arktis

Dann gibt es auch noch den Klimawandel. Bei seinen Touren auf Spitzbergen hat Haass gesehen, dass es immer wärmer wird, auch im hohen Norden. Oder besser gesagt, am meisten im hohen Norden. Klimatologen zufolge ändert sich das Klima in der Arktis schneller als anderswo. Für Haass ist das an den einige Jahre alten Karten am Rückgang von Eis sichtbar: Dort, wo auf der Karte noch Gletscher eingezeichnet sind, sind heute keine mehr. Sie schmelzen ab, Permafrost im Boden taut auf. Im Sommer 2020 kletterte das Thermometer in Spitzbergen auf 21,7 Grad und erreicht damit die bislang höchste Temperatur auf der Inselgruppe seit Aufzeichnungsbeginn.

Ob Tourismus in Spitzbergen in Zeiten wie diesen überhaupt noch vertretbar sei - auch das wird Jonas Haass häufiger gefragt. "Ich sagen dann immer, keine Form von Tourismus ist nachhaltig. Allein, dass es da oben Siedlungen gibt, ist nicht nachhaltig. Aber jeder andere Urlaub eben auch nicht", sagt er. Dass er trotzdem Menschen in Expeditionen durch die einsame Landschaft führt, hat auch mit Naturfilmer David Attenborough zu tun, an dessen Ideen er anknüpft: "Viele verstehen die Dinge erst, wenn sie sie sehen", sagt Haass. Deshalb betrachte er es auch als gesellschaftlichen Aufgaben, dass Menschen die Gegend kennenlernen.

Während der Expedition für den Film mussten sich Jonas Haass und sein Team sehr gedulden, bis die passenden Aufnahmen im Kasten waren. (Foto: Jonas Haass/oh)

Auch darum hat Jonas Haass diesen Sommer eine Expedition durch Spitzbergen organisiert, ohne Touristen, dafür mit einer Kamera und Mikrophonen, "die wir dauerhaft angeschnallt hatten." 40 Tage lang durchqueren er und sein Team Spitzbergen von Nord nach Süd. Sie sind zu siebt, mit drei Zelten. "Das wichtigste war, dass jeder eine Aufgabe hatte und für das zuständig war, das er gut konnte", erinnert er sich. Dazu mussten die Sportler Zeit einplanen für die Videoaufnahmen - und 60 Kilogramm Technik auf den Schlitten transportieren. Es war die erste große Dokumentation, die Haass mitgestaltet hat. Er habe mehr als ein Jahr Vorbereitung hineingesteckt und die Vorauskosten übernommen. "Als ich kurz vor dem Start der Expedition mit dem Rad von der Arbeit heimgefahren bin, habe ich mir Sorgen gemacht, dass ich mir jetzt den Arm breche und alles umsonst ist", sagt er und lacht. Aber als er wenige Tage später mit dem Schneemobil in der Eiswüste abgesetzt wurde: "dann weißt du, es geht los."

Mittlerweile ist Jonas Haass wieder zurück in München, hat Zelt und Parka gegen Büro und Anzughose getauscht. Die Dokumentation von der Expeditionmit dem Titel "End to End Svalbard" feiert am Montag, 6. November, Premiere im Filmtheater am Sendlinger Tor in München. Danach wird Haass wieder unterwegs sein und mit seinem Team und der Dokumentation durch verschiedene Filmfestivals in Europa touren. Gedanklich zieht es ihn auch wieder in die Ferne: Einmal den Südpol auf Skiern durchwandern und daraus einen Film schaffen, sagt er, ist schon das nächste Ziel.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Radfahren im Landkreis
:Über Stock und Stein und Schotter

Gemeinsam mit dem Tölzer Land Tourismus hat die Wackersbergerin Sara Hallbauer 400 Kilometer Gravelrouten ausgekundschaftet und in einer Kollektion veröffentlicht. Was der Vorteil ist, wo man am besten entlang fährt und was man dabei beachten muss.

Von Lorenz Szimhardt

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: