Deutsche Geschichte:Hans Scholl in Tölz

Lesezeit: 5 min

Im kurzen Leben des von den Nazis ermordeten Widerstandskämpfers spielte die Kurstadt eine wichtige Rolle. Bislang war das kaum bekannt.

Von Klaus Schieder

Hans Scholl war kein junger Mann von Traurigkeit. Als er zusammen mit der Familie Borchers eines Tages auf einem Spaziergang nahe Roßwies bei Bad Tölz an einer Pferdekoppel vorbeikam, gab es für ihn kein Halten mehr. "Mir nix, dir nix, ist er auf die Tiere zugegangen und hat sich auf eines von ihnen draufgeschwungen, ohne Sattel und Zaumzeug", erinnert sich der heute 91 Jahre alte Klaus Borchers. Das war keine so gute Idee: Scholl rutschte vom Pferd, was allerdings glimpflich ausging. Und man mag sich beim Zuhören gerne vorstellen, wie alle über diesen Fall lachten und den Ausflug in aufgeräumter Stimmung fortsetzten.

Hans Scholl in Bad Tölz - das ist ein unbeachtetes und damit weitgehend unbekanntes Kapitel aus dem 24 Jahre kurzen Leben des Widerstandskämpfers gegen das Nazi-Regime. Ausgegraben hat es Martin Hake, Heimatforscher und Mitglied des Historischen Vereins im Bayerischen Oberland in Bad Tölz, als er für das neue Buch "Bad Tölz: Rare Fotos, vergessene Geschichte(n) 1920 - 1950" zusammen mit dem Journalisten Christoph Schnitzer und dem Tölzer Stadtarchivar Sebastian Lindmeyr recherchierte.

Das war ein glücklicher Zufall. Eigentlich war Hake im Internet auf der Suche nach Hermann Scholl, der in den 1920-er Jahren eine Sternwarte am Schuss in Tölz führte. Er habe einfach die Begriffe "Scholl" und "Tölz" eingegeben, erzählt er. Und fand dabei eine Fußnote, die niemandem vor ihm offenbar aufgefallen war. "Da kam komischerweise ein Auszug aus einem Gestapo-Protokoll auf Englisch", sagt Hake. Als hartnäckiger Detektiv der Heimatgeschichte folgte er dieser Spur zur nächsten und übernächsten. Das Ergebnis: Der Mitbegründer der "Weißen Rose" war nicht bloß mal zufällig in Roßwies, sondern pflegte intensive Beziehungen nach Tölz. Das zeigt das Verhör, das die Gestapo in München mit Hans Scholl nur einen Tag vor dessen Hinrichtung am 22. Februar 1943 führte. Auf einer Landkarte wäre die Kurstadt in der Biografie des Widerstandskämpfers "ein dickes Fähnchen, nicht bloß eine Stecknadel", sagt Schnitzer.

Der Grund dafür war vor allem seine Freundschaft mit Hellmut Hartert, den Scholl als Medizinstudent im Herbst 1939 an der Ludwig-Maximilians-Universität kennen gelernt hatte. Die Eltern von Hartert besaßen ein Sommerhaus in Bad Tölz - jene gelbe Villa mit großem Garten, die rechter Hand gleich am Aufgang zum Kalvarienberg liegt und seit 30 Jahren im Besitz der Baufirma Schneider ist. Von Hans Scholl gibt es ein Foto, das ihn auf dem Balkon im obersten Stockwerk des Hauses zeigt: Er sitzt auf einem Stuhl und schaut zurück auf den Fotografen. Durch das penible Studium des hölzernen Balkongeländers und der Aussicht, auch den Vergleich mit alten Fotos, fanden Hake und seine Mitautoren heraus, dass es sich um eben jene alte Villa am Kalvarienberg handelt. Von dort aus unternahmen Scholl und sein Studienfreund immer wieder Ausflüge mit dem Fahrrad oder in die Berge, zur Bayernhütte am Brauneck oder auch zur Tutzinger Hütte am Fuß der Benediktenwand.

Davon erzählt Scholl der Gestapo an eben jenem Tag vor seinem Prozess vor dem Volksgerichtshof und seiner Hinrichtung. Im Protokoll heißt es: "Ich bin Mitglied des Deutschen Alpenvereins, Sektion München, denn ich bin begeisterter Bergsteiger und Schifahrer. Sehr viel habe ich mich im Landhaus des Herrn Professor Eduard Borchers in Tölz, Haus Roßwies, dann im Haus des Herrn Obermedizinalrats Professor Hartert in Tölz, am Kalvarienberg Nr.1 (...) aufgehalten." Sein Studienfreund Hellmut hatte ihn mit den Borchers bekannt gemacht. Der Vater war Chefarzt am Luisenhospital in Aachen, sein Ferienhaus in Roßwies oberhalb vom Walgerfranz an der Staatsstraße 2072 steht nicht mehr. Unter seinen sechs Kindern gab es eines, das der junge Medizinstudent offenbar mehr als bloß mochte: Ute Borchers.

Das Mädchen war damals erst 14 Jahre alt, Scholl schon 22. Er habe sich in seine Schwester "verguckt", erzählt Klaus Borchers, der damals gerade elf Jahre alt war und als einziges Familienmitglied noch lebt, im Videointerview für das neue Buch. Mehr geschah damals nicht. Der Kontakt sei rein freundschaftlich gewesen, sagte Scholl gegenüber der Gestapo aus. Mutter Borchers empfand die Romanze jedoch als unangebracht, weshalb sie dem jungen Gast einen Brief schrieb und ihn auf die Aussichtslosigkeit seiner Avancen hinwies. Das akzeptierte der junge Student schweren Herzens. Gestern sei er zu Gast in Tölz gewesen, berichtet er in einem Brief vom März 1941. "Seit vier Wochen wieder und wahrscheinlich mein letzter Besuch dort. Mit Frau Borchers verbindet mich eine herzliche Freundschaft, und der kleinen Ute muss ich wider meine Gefühle ihre Kindlichkeit lassen, wie es mir mein Verstand vorschreibt." Leicht fiel ihm das Loslassen indes nicht. In Klammern fügt er hinzu, das Ganze sei "allerdings mit einer Zigarette nicht abgetan".

Von alledem bekam Klaus Borchers seinerzeit kaum etwas mit. Der 91-Jährige erinnert sich an Scholl als einen "guten Schwimmer" und einen "guten Erzähler", mit dem es im Wohnzimmer immer lebhaft und spannend gewesen sei. "Für uns Kinder war es faszinierend", sagt er. "Wenn er da war, dann war ich jedenfalls glücklich." Um Politik ging es in den Gesprächen, die Scholl mit dem Vater führte. Ob und was Eduard Borchers von den Aktionen der "Weißen Rose" wusste, ist unklar; fest steht aber, dass der Mitbegründer der studentischen Widerstandsgruppe aus seiner tiefen Abneigung gegen das Nazi-Regime keinen Hehl machte. "Es ist sicher, dass er meinem Vater seine Ansichten dargelegt hat, und wie ich meinen Vater kenne, hat er ihm gesagt: Sei ja vorsichtig", berichtet Borchers. Auf seinen Ausflügen nach Roßwies wurde Hans Scholl einmal auch von seiner Schwester Sophie und von Alexander Schmorell begleitet, einem Mitglied der "Weißen Rose". Im Bayerischen Staatsarchiv befindet sich eine Postkarte von Sophie Scholl, worin sie den Borchers für den Aufenthalt in Tölz dankt.

Unbeschwerte Stunden in Roßwies: Ruth Borchers, Hans Scholl, Klaus Borchers, Alexander Schmorell (vermutlich), Hans-Jürgen Borchers, Ute Borchers und Renate Borchers (v. li.). (Foto: Institut für Zeitgeschichte/OH)

In Roßwies soll Hans Scholl kurz vor seinem Tod einen Vervielfältigungsapparat und ein Tagebuch versteckt haben, was mündlich tradiert, aber nicht bewiesen ist. In seinem Verhör bei der Gestapo erklärte er jedoch, dass er Flugblätter zum Walgerfranz-Wirt und zu Dr. Schneider geschickt habe - dabei handelt es sich um Josef Schneider, den Großvater von Andrea Niedermaier, Tölzer Stadträtin und Frau des Landrats. Es sind Kopien des berühmten Stalingrad-Flugblatts, das Hans und Sophie Scholl am 18. Februar 1943 im Innenhof der Münchner Universität verstreuten. Der Text ist ein Monument des Widerstands gegen die Nazi-Diktatur: "Es gärt im deutschen Volk: Wollen wir weiter einem Dilettanten das Schicksal unserer Armeen anvertrauen? Wollen wir weiter den niedrigsten Machtinstinkten einer Parteiclique den Rest der deutschen Jugend opfern? Nimmermehr! (...) Der deutsche Name bleibt für immer geschändet, wenn nicht die deutsche Jugend endlich aufsteht, rächt und sühnt zugleich, seine Peiniger zerschmettert und ein neues, geistiges Europa aufrichtet."

Nach der Hinrichtung der Geschwister Scholl kam die Gestapo auch zur Familie Borchers. Sein Vater sei in Aachen "unter Druck gesetzt" worden, erinnert sich Klaus Borchers. Dabei stellte sich für die Nazis heraus, dass wohl auch Tochter Ute eine Rolle im Leben des Widerstandskämpfers spielte - weshalb sie ebenfalls einem Verhör unterzogen wurde.

Als "fast schon tragisch" empfindet es Autor Schnitzer, dass ein anderes Mitglied der "Weißen Rose" von den Aufenthalten ihres Vorbilds in Tölz nicht gewusst habe. Marie-Luise Schultze-Jahn, die 2010 mit 92 Jahren in der Kurstadt starb, habe von den Tölzer Episoden im Leben von Hans Scholl nichts geahnt. Warum und wie dieser ermordet wurde, bekam Klaus Borchers als Kind nicht mit. Das sei erst später in sein Bewusstsein gedrungen, erzählt er. "Für mich ist Hans Scholl ein Idol, das kann ich uneingeschränkt sagen."

"Bad Tölz: Rare Fotos, vergessene Geschichte(n) 1920 - 1950", 24,80 Euro, erhältlich im Stadtmuseum Bad Tölz und in den Tölzer Buchhandlungen.

© SZ vom 27.11.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: