"Eine ureigene kommunale Aufgabe":Integration statt Abwehr

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Bei Veranstaltungen wie hier im Gymnasium beim Planspiel "Flucht und Asyl" versucht Geretsried die Bereitschaft zur Integration zu fördern. (Foto: Hartmut Pöstges)

Geretsried bemüht sich um eine gute Aufnahme Geflüchteter. Beim 20. Forum der Stadt und des Trägervereins Jugend- und Sozialarbeit erläutert Uche Akpulu Fluchtursachen und Hintergründe.

Von Felicitas Amler, Geretsried

Während aus Berlin beinahe täglich neue Ideen zu hören sind, wie Deutschland Flüchtlinge abschrecken, abwehren, abschieben könnte, befasst sich Geretsried damit, wie die ankommenden Menschen gut aufgenommen werden können. Dazu gehört für die Stadt auch die Frage, warum so viele Menschen aus ihrer Heimat fliehen - und was die Hintergründe sind.

Uche Akpulu vom Bayerischen Flüchtlingsrat befasst sich mit Fluchtrouten und Fluchtursachen. (Foto: Hartmut Pöstges)

Beim 20. Integrationsforum, einer Veranstaltungsreihe der Stadt mit dem Trägerverein Jugend- und Sozialarbeit (TVJA), sprach Uche Akpulu über Fluchtrouten und Fluchtursachen. Akpulu ist Mitarbeiter des Bayerischen Flüchtlingsrats, stammt aus Nigeria, wo er Biochemie studiert hat, ist nach seinem Asylverfahren anerkannter Flüchtling in Deutschland und hat hier ein Studium in Umwelt- und Recyclingtechnik absolviert und seinen Master in Interkultureller Kommunikation gemacht.

Weltweit sind nach Information des Hochkommissariats der Vereinten Nationen UNHCR 108 Millionen Menschen auf der Flucht, davon sind 40 Prozent Kinder. Und entgegen einer oft geäußerten Fehleinschätzung kommen nicht etwa "alle zu uns", also nach Europa. Vielmehr sind die allermeisten Binnenflüchtlinge (71 Millionen). Akpulu erklärte, die größten Herkunftsländer seien Syrien, die Ukraine, Afghanistan, Venezuela und Südsudan. Krieg sei als Fluchtursache selbstverständlich, sagte er, ihn interessierten aber auch die "unscheinbaren" Ursachen. Neben politischer Verfolgung nannte er Armut und Hunger sowie Umweltzerstörung.

Kriege und politische Verfolgung in Afrika seien ein "koloniales Erbe", so legte er dar. Denn in der Afrika-Konferenz, die vom 15. November 1884 bis 26. Februar 1885 auf Einladung des deutschen Reichskanzlers Otto von Bismarck in Berlin stattfand, wurde der Kontinent gewaltsam und willkürlich aufgeteilt. Akpulu erklärte die Folgen an einem aktuellen Beispiel. Hintergrund des UN-Einsatzes in Mali unter deutscher Beteiligung sei der seit Jahrzehnten andauernde Kampf der Tuareg um einen eigenen Staat. Der Referent zeigte auf einer Landkarte, dass die Tuareg auf fünf afrikanische Staaten verteilt sind. Und warum, so fragte er rhetorisch. "Die Tuareg waren ja nicht in Berlin eingeladen bei Otto von Bismarck."

Auch Armut und Hunger in Afrika sind nach Akpulus Erklärung auf die Politik der westlichen Welt zurückzuführen. Milliarden von Agrarsubventionen führten zu einer gewaltigen Überproduktion, und dieser "Exzess" werde dann mit ebenso enormen Exporthilfen in die Entwicklungsländer ausgeführt. Mit den dadurch geförderten Niedrigpreisen könnten die Kleinbauern in Afrika einfach nicht mithalten. Aber wenn diese Menschen dann flüchteten, würden sie hier auch noch als "Wirtschaftsflüchtlinge" diskriminiert.

Eine Zuhörerin sagte dazu: "Mich entsetzt, dass wir jetzt noch so viel falsch machen", und fragte zusammen mit einer zweiten Teilnehmerin, was der Westen tun müsse. Akpulu sagte: "Die EU muss Afrika einfach loslassen."

Ein weiterer Fluchtgrund, der in der Genfer Flüchtlingskonvention noch gar nicht vorkommt, ist die Umweltzerstörung. Vom Klimawandel sei Afrika weltweit am meisten betroffen, so der Referent, dabei sei der Kontinent nur zu drei Prozent dafür verantwortlich.

Rudi Mühlhans, Geschäftsführer des TVJA, nahm die Ausführungen zum Anlass, um die Dramatik des Themas Flucht zu unterstreichen. "Wir müssen viel mehr dafür tun, dass die Menschen hier gut ankommen", sagte er. Denn die den Geflüchteten nachfolgenden Generationen "werden die Gesellschaft hier mitprägen". Mühlhans stellte fest, die Fluchtursachen seien hierzulande "nicht in den Köpfen drin". Darüber werde zu wenig gesprochen. Und gleichzeitig brauche es Begegnungen, damit Ängste der Einheimischen reduziert werden.

Dazu trägt die Stadt Geretsried nach Überzeugung von Bürgermeister Michael Müller (CSU) schon seit Jahren viel bei, etwa mit der Förderung der Koordinierungsstelle Integration aktiv, die gerade um zwei Jahre verlängert worden sei. Zudem werde aktuell im Rathaus eine Stelle für Integrationsarbeit geschaffen. "Wir wollen hier ein Zeichen setzen", sagte Müller. Durch die Integrationsforen, die zweimal jährlich stattfinden, sei bereits das Bewusstsein geschaffen worden, "dass Integration alle angeht". Diese müsse breit angelegt und gut vernetzt sein.

Der Bürgermeister erinnerte daran, dass Migration in der Vertriebenenstadt Geretsried kein neues Thema sei. Und er unterstrich: "Integration ist eine ureigene kommunale Aufgabe."

www.geretsried.de/de/familie-sport-kultur/asyl/integration

www.uno-fluechtlingshilfe.de/informieren/fluchtursachen

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