SZ-Adventskalender:Die Enge im geschützten Raum

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Durch die Corona-Pandemie und die Lockdowns können sich die Kinder und Jugendlichen des Eurasburger Inselhauses außerhalb ihrer Wohnstätte nicht mehr so entfalten wie zuvor. Es fehlt das Geld, um mehr Zimmer bedarfsgerecht umzugestalten.

Von Claudia Koestler, Eurasburg

Dass es an diesem Tag des Besuchs, zu dieser Stunde so ruhig ist am Eurasburger Inselhaus, hat einen so einfachen wie guten Grund: Die Kinder und Jugendlichen, die hier leben, sind alle in der Schule. Was wiederum bedeutet, dass bislang auch alle von Corona verschont geblieben sind. Zumindest körperlich, also von einer Infektion, denn das alles beherrschende Thema mit seinen sozialen und gesellschaftlichen Auswirkungen ist natürlich auch an den Kindern, Jugendlichen und Mitarbeitern der Eurasburger Einrichtung nicht vorbeigegangen, zumal die zweite Welle auch über den Landkreis mit voller Wucht hereingebrochen ist. Auch wenn also ein paar Stunden später alle da sein werden: Musik, Tanz, Lachen - die typische Geräuschkulisse von Heranwachsenden - wird man im Inselhaus nicht mehr hören. Denn die Pandemie verwehrt seinen Bewohnern gerade etwas Wichtiges: Räume, um sich zu treffen, sich zu entwickeln, sich auszuleben.

Vor annähernd vier Jahrzehnten begann die Geschichte des Inselhauses sowie der Inselhaus Kinder- und Jugendhilfe. Dörte Sambraus, Montessori-Lehrerin aus München, nutzte ihr Erbe von mehr als zwei Millionen D-Mark, um benachteiligten Kindern zu helfen. Gemeinsam mit Rolf Merten, der die Einrichtung bis 2017 leitete, übernahm sie ein ehemaliges Kinderkurheim auf einer ländlich-idyllischen Anhöhe im Eurasburger Ortsteil Lengenwies und schuf dort einen Ort, an dem Kinder aus schwierigen familiären Verhältnissen dauerhaft leben können.

Elke Burghardt von der Inselhaus Kinder- und Jugendhilfe in Eurasburg. (Foto: Hartmut Pöstges)

Aktuell sind das 18 Kinder und Jugendliche in zwei Gruppen à neun Personen. Sie wohnen im ersten und zweiten Stock des Heims. Jedes Kind hat ein eigenes Zimmer, pro Stockwerk teilen sich eine Küche und einen Wohn- und Eßbereich. Diese wohngemeinschaftsähnliche Form des Zusammenlebens funktioniere gut, sagt Elke Burghardt, Assistentin der Geschäftsführung und zuständig für Öffentlichkeitsarbeit. Aber: "Man unterschätzt, dass es eine Großfamilie ist, die wir hier bilden." So sei zum Beispiel die Altersspanne der dort lebenden Kinder und Jugendlichen recht groß. Von sechs bis 19 Jahren reicht sie. Wenn also die Jüngeren pünktlich am frühen Abend ins Bett gehen, dann wird es für die Älteren schwierig.

Obwohl sie noch aufbleiben dürften, haben sie in dem Gebäude momentan keine Räumlichkeiten, um sich zu treffen, zu chillen, zu tanzen, Musik zu hören oder Filme zu schauen, ohne dass sie die Kleinen beim Schlafen stören würden. Das, was Jugendliche in ihrer Freizeit eben am liebsten tun - es kann ausgerechnet für die Jugendlichen aus dem Inselhaus wegen Corona derzeit nicht mehr stattfinden. Zuvor war es den Teenagern und jungen Erwachsenen aus dem Inselhaus immerhin möglich, sich draußen zu treffen. Draußen im Sinne von einem Café oder einer Sport- und Freizeitstätte nach der Schule. Nun, da alle größeren Räume und auch Versammlungen verboten sind, bleibt ihnen nicht mehr viel, außer dem anderen "Draußen": Reden auf einer Bank im Garten vor dem Haus, ein bisschen Kicken auf der Wiese. Doch das wintergraue kalte Wetter macht auch dem bald ein Ende.

"Durch den Lockdown und die Restriktionen haben unsere Kinder und Jugendlichen keine Möglichkeit mehr, draußen etwas zu unternehmen", bringt Burghardt das Problem auf den Punkt. Die Folge: Sie verspürten "viel mehr Langeweile, Frust, und das Gefühl, eingesperrt zu sein". Über allem stehe dann auch die Frage, wohin mit all der Energie.

Gemeinsam ist es jedoch gelungen, diese Energien kreativ zu kanalisieren: Nämlich dahingehend, Ideen zu entwickeln, wie im Gebäude Räume geschaffen werden können, in denen sich die jungen Bewohner zurückziehen könnten, um auch mal "ihr Ding" zu machen, wie Burghardt es ausdrückt. Während der Corona-Pandemie, aber auch danach. Schnell haben sie geeignete Möglichkeiten ausgemacht: im Erdgeschoß des Gebäudes. Dort nämlich gibt es tatsächlich Zimmer, die nicht mehr genutzt werden und groß genug wären, um mal eine Tanzchoreografie einzustudieren, einem anderen Hobby nachzugehen oder - nach Corona - Gäste oder Eltern einzuladen.

Da ist zum Beispiel das frühere Frühstückszimmer, in dem die einst geschenkten Tische und Stühle im Gelsenkirchener Barock Staub anziehen. Oder das alte Kaminzimmer, eigentlich ein Schmuckstück, das jedoch unter der Zeit gelitten hat. In dem Kamin mit den unechten Delft-Kacheln wärmt schon lange kein Feuer mehr, vor ihm steht heute nur ein wackeliges Bücherregal. Gegenüber ein Erker, in dem aber nie jemand sitzt, weil es dort wegen schlechtem Interims-Handwerk durch alle Ritzen pfeift. Trist wie eine Abstellkammer wirkt deshalb der Raum, ähnlich wie das angrenzende Glaszimmer mit seiner Fensterfront zum Garten, in dem einst die Leitung ihr Büro hatte, heute aber nurmehr Kisten herumstehen.

Eigentlich wären die Räume ideal - allein, es fehlt am Geld für den Umbau, für die nötigen Schreinerarbeiten genauso wie für Möbel, Deko und die Wandfarbe, mit der die Jugendlichen selbst gerne mit Hand anlegen würden. "Unser Budget reicht immer nur für die Instandhaltung, nicht für irgendetwas Weiteres", erklärt Burghardt. "Kompromisse sind eben die Lösungen, die am hartnäckigsten bleiben", weiß sie. Und trotzdem hofft sie, dass sich der größte Wunsch der Jugendlichen doch noch erfüllen lässt. Seine Dringlichkeit jedenfalls hat die Pandemie in diesem Jahr enorm erhöht.

© SZ vom 28.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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