Betreuung Sterbender:"Todkranke sprechen nicht über das Wetter"

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Sterbenden die Hand zu halten gehört auch zur Arbeit von Hospizbetreuerinnen wie Marina Hechtl. (Foto: Claus Schunk)

Seit fünf Jahren arbeitet Marina Hechtl ehrenamtlich im Christophorus Hospizverein, der in diesem Jahr 30-jähriges Jubiläum feiert. Ihre Aufgabe empfindet sie als "totale Bereícherung".

Von Petra Schneider, Bad Tölz-Wolfratshausen

An ihre erste Aufgabe als Hospizbegleiterin erinnert sich Marina Hechtl noch genau: Sie wurde zu einer alten Dame geschickt, die in ein Pflegeheim gekommen war. "Ich habe gespürt, dass sie sich dort überhaupt nicht wohl gefühlthat", erzählt Hechtl. Den Grund erfuhr sie später. Als Kind war die Frau in einen Zug gesetzt und als Flüchtling nach Geretsried verschickt worden. Eine Heimat zu finden, sei wichtig gewesen für die alte Dame, sagt Hechtl. Diese wieder zu verlieren, habe die Ängste, die sie als Kind beim Einsteigen in den Zug erlebt hatte, wieder hochgespült.

Viele Lebensgeschichten hat Hechtl in den vergangenen Jahren gehört, denn am Ende ließen die meisten Menschen ihr Leben noch einmal Revue passieren. Seit 2018 ist die 46-Jährige Königsdorferin ehrenamtliche Hospizbegleiterin beim Christophorus Hospizverein Bad Tölz-Wolfratshausen. Seit 30 Jahren setzt sich der Verein mit Sitz in Geretsried und derzeit 318 Mitgliedern dafür ein, sterbende Menschen zu begleiten und Angehörige zu entlasten. Gegründet wurde er ursprünglich mit dem Ziel, im Landkreis ein Hospiz zu bauen. Das ist bisher nicht gelungen, weil die Bevölkerungszahl zu gering ist. Aber immerhin gibt es an der Kreisklinik Wolfratshausen eine Palliativstation.

Marina Hechtl ist seit fünf Jahren als Hospizbegleiterin tätig. Die Arbeit sei "nicht so traurig, wie man sich das vorstellt", betont die Königsdorferin. (Foto: Manfred Neubauer)

Im Hospizverein, der Anfang Oktober mit dem Sozialpreis des Lions Clubs Bad Tölz ausgezeichnet wurde, arbeiten 55 ehrenamtliche Begleiter, mehr Frauen als Männer. Sie besuchen die Todkranken zu Hause, in einer Pflegeeinrichtung oder im Krankenhaus. Jährlich nehmen etwa 100 Menschen das kostenlose Angebot im Landkreis wahr. In diesem Sommer habe es so viele Anfragen gegeben, dass es schwierig gewesen sei, Hospizbegleiter zu finden, sagt Hechtl. Die 46-Jährige arbeitet als selbständige Fußpflegerin, ist verheiratet und Mutter von zwei Töchtern. Eine lebensfrohe Frau; sorgfältig geschminkt, fein gezupfte Augenbrauen, wilde Locken. Sie spricht ruhig und denkt manchmal lange nach, um die richtigen Worte zu finden. Und wenn sie lacht, dann hüpft ihre lange Halskette.

Warum beschäftigt sich eine Frau, die fest im Leben steht, in ihrer Freizeit mit dem Sterben? Noch dazu ehrenamtlich, denn der Verein ist auf Spenden angewiesen und bezahlt nur die Fahrtkosten und die Hälfte der einjährigen Ausbildung. "Die Hospizbegleitung ist eigentlich mein Traumjob", sagt Hechtl. Sie habe immer gerne im sozialen Bereich arbeiten wollen. Der Auslöser sei dann der Tod ihrer Tante gewesen. Da hätten sich plötzlich viele Fragen aufgetan. Habe ich diese Frau wirklich gekannt? Was macht das alles für einen Sinn?

Ein eigenes Palliativkrankenhaus gibt es im Landkreis nicht, dafür eine Palliativeinheit in der Kreisklinik Wolfratshausen. (Foto: Hartmut Pöstges)

Die Menschen, die sie beim Sterben begleitet hat, haben ihr, der Fremden, das anvertraut, was wichtig war. Die Essenz eines Lebens. Das empfinde sie als Ehre und bereichernde Erfahrung, weil es nicht um Oberflächlichkeiten gehe. "Todkranke sprechen nicht über das Wetter", sagt Hechtl. So unterschiedlich wie das Leben, sei auch das Sterben, das in Phasen ablaufe: Zuerst das Ignorieren der tödlichen Krankheit, dann die Wut, irgendwann die Akzeptanz. "Ich versuche den Menschen zu erfassen, da wo er steht." Ohne Urteil, Ohne Ratschläge. Da sein, zuhören und zweckfrei Zeit verbringen. Denn pflegerische oder medizinische Versorgung leistet der Hospizverein nicht. Das übernehmen Ärzte und Pflegekräfte des ambulanten Palliativ-Teams "Opal", die den Patienten auch die Betreuung durch den Hospizverein vorschlagen.

Hechtl verbringt einmal die Woche zwei bis drei Stunden mit den schwerstkranken Menschen, manchmal bleiben nur zwei Wochen, manchmal ein Jahr. "Wie geht es dir heute, was brauchst du?" Reden, spazierengehen, spielen, malen. Schweigend an der Isar sitzen und dem Fluss zusehen. Oder einfach die Hand halten, wie sie das oft stundenlang bei jenem demenzkranken Mann gemacht habe, der nicht mehr sprechen konnte. Den Tagen Leben geben bis zum Schluss, das ist der Leitsatz des Hospizvereins. Auch sterbende Menschen hätten "Bedürfnisse", sagt Hechtl, Sexualität spiele bei Jüngeren durchaus eine Rolle. Die Opiate gegen die Schmerzen, die das Opal-Team verabreichen kann, dämpften das allerdings. Manche entschieden sich deshalb gegen die starken Schmerzmittel, weil sie nicht wegdämmern wollten.

In der Ausbildung lerne man, wie man Nähe schenken könne, ohne dass es übergriffig wirke. Die Hand ausstrecken und den anderen entscheiden lassen, ob er sie halten will. Tücher mit Aromen auf die Brust legen, Düfte, die das Brodeln im Inneren lindern, das manche Krankheiten auslösen. Und wie lindert man die Angst vor dem Tod? "Wenn man selbst ruhig ist, dann hat die Angst des anderen einen Boden, wo sie landen kann", sagt Hechtl. Das falle Angehörigen oft schwer, weil sie es kaum aushalten, den geliebten Menschen gezeichnet von Chemotherapie oder Schmerzen zu sehen. "Ich sehe und kenne ihn nur so, wie er dann ist."

"Sehen, was das Leben für ein Reichtum ist."

Neuerdings gibt es beim Hospizverein auch Trauerbegleiter für Angehörige. "Das ist mega-dringend", sagt Hechtl, die Ausbildung sei noch intensiver, als für die Hospizbegleitung. "Wir leben in einer so offenen Gesellschaft, aber Trauer überfordert uns." Vor allem, wenn es um Suizid gehe. Dann wechseln Leute die Straßenseite, weil sie nicht wüssten, wie sie den Angehörigen begegnen sollen. Die Trauerkultur sei verloren gegangen; Viele seien nicht mehr kirchlich eingebunden, Rituale, wie schwarze Kleidung oder das Trauerjahr, hätten ihre Verbindlichkeit verloren. Außerdem sei die Geduld des sozialen Umfelds begrenzt, stellt Hechtl fest. Es werde erwartet, dass Menschen nach dem Verlust eines Angehörigen schnell wieder funktionieren.

Und was macht sie mit ihrer eigenen Trauer, wenn ihre Klienten sterben? Natürlich gebe es Fälle, die sie bedrückten. So wie jene junge Frau, die mit 36 Jahren an Krebs gestorben sei und ihre zwei kleinen Kinder zurücklassen musste. Wertvolle Unterstützung leiste die Supervision, die drei- bis viermal pro Jahr stattfinde, und bei der man sich im Team austauschen könne. Die Arbeit als Hospizbegleiterin sei aber "nicht so traurig, wie man sich das vorstellt", betont Hechtl, sie empfinde die Aufgabe als "totale Bereicherung". Hat sie eine Antwort auf die Sinnfrage gefunden? Ja, sagt sie und nimmt sich Zeit mit der Formulierung: "Sehen, was das Leben für ein Reichtum ist, und es nicht mit Banalitäten vergeuden."

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