Boxen mit Ali Cukur:Ein Trainer im Ring und im Leben

Lesezeit: 4 min

Der 60-jährige Coach vom TSV 1860 bringt jungen Menschen nicht nur das Kämpfen bei - er ist auch Ratgeber und Vaterersatz. Nicht nur in München.

Von Kathrin Müller-Lancé, Bad Tölz

Ali Cukur in dieser Umgebung zu sehen, ist etwas ungewöhnlich. Von der Decke hängt kein lederner Boxsack, stattdessen bildet ein selbstgebasteltes Bühnenbild für ein Theaterstück den Hintergrund des Boxtrainings. In der Turnhalle der Tölzer Lettenholzschule übt Cukur auch nicht mit Profis, sondern mit Kindern im Alter von sieben bis neun Jahren.

Vier Mädchen, ein Junge - der Anteil an rosafarbener Sportkleidung ist hoch. Die Boxhandschuhe sind fast halb so groß wie die kleinen Körper. "Wenn ich von München aus hier raus fahre und die Berge sehe, relaxe ich", sagt Cukur. "Das ist einfach eine andere Atmosphäre." Einmal pro Woche kommt er zum Training nach Bad Tölz.

Wenn er nicht gerade Grundschulkinder durch die Halle hüpfen lässt, leitet der 60-Jährige die Boxabteilung des TSV 1860 München. Viele der jungen Menschen, die er coacht, stammen aus schwierigen Verhältnissen. Er ist nicht nur Trainer, sondern auch Ratgeber, Sozialarbeiter und Vaterersatz.

Seit Neuestem kommt noch eine Rolle hinzu: Ali Cukur ist auch Protagonist in dem gerade angelaufenen Dokumentarfilm Lionhearted, der die Arbeit des Ausnahmetrainers begleitet. "Auch wenn du der schlimmste Finger in ganz München bist, der Ali nimmt dich trotzdem auf", sagt einer seiner Schützlinge in dem Film über ihn. "Ich kämpfe, um nie mehr kämpfen zu müssen", erklärt ein anderer.

Dass Cukur eine besondere Verbindung zu den Menschen hat, die er trainiert, zeigt sich - so anders die Gegebenheiten sind - auch beim Training in Bad Tölz. Nach einem kurzen Aufwärmlauf geht es in die Boxerstellung: den linken Fuß nach vorne, den rechten nach hinten. "Wer kann mir erklären, was Schattenboxen heißt?" fragt Cukur. Als der Junge in der Runde sich meldet, aber nur leise antwortet, sagt der Trainer: "Du musst dir das auch zutrauen, sag das laut!"

"Ich versuche, meinen Boxern zuzuhören"

Ali Cukur weiß, wovon er spricht. Er ist selbst ehemaliger Profiboxer. 1982 wurde er Fünfter bei der Weltmeisterschaft, er trat damals für die Türkei an. Wenn er spricht, mischt sich ein leichtes Bairisch unter seinen türkischen Akzent. "Geht's die Handschuhe holen", sagt er zum Beispiel zu den Kindern in der Turnhalle, oder "Kommt's zusammen!"

Im Jahr 1969 kam Cukur aus der Türkei nach Deutschland. Nur wenige Jahre später fing er an, beim TSV 1860 zu boxen. Der Sport war für ihn ein Ventil, eine Möglichkeit, von zu Hause zu flüchten. "Ich hatte einen standhaften Vater", erzählt er, "der wollte alles bestimmen, notfalls auch mit Gewalt."

Die Wertschätzung, die ihm damals gefehlt hat, versucht Cukur jetzt an seine Sportlerinnen und Sportler weiterzugeben. "Die haben oft keine Leute im näheren Umfeld, denen sie von ihren Problemen erzählen können. Ich versuche, meinen Boxern zuzuhören." Cukur spricht oft von "meinen Boxern", wie ein Vater, voller Stolz, aber auch voller Verantwortungsgefühl.

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Einmal, erzählt er, habe sein Handy mitten in der Nacht geklingelt. Ein Türsteher rief ihn an, einer seiner Jungs würde vor einem Club Probleme machen. "Ich habe dann mit ihm telefoniert und gesagt: Du gehst jetzt nach Hause. Als er das nicht gemacht hat, bin ich ins Auto gestiegen und habe ihn abgeholt." Einem Jungen mit einem problematischen Verhältnis zum Vater habe er geraten, ein klärendes Gespräch zu suchen. "Heute verstehen die sich wunderbar." Er selbst habe sich mit seinem Vater erst viel zu spät ausgesöhnt, auf dem Sterbebett, sagt Cukur.

Wie nah der Trainer seinen Schützlingen ist, wird auch in dem Dokumentarfilm klar, der den TSV 1860 zu einem Boxcamp nach Ghana begleitet. In den Slums von Accra sieht man die jungen Menschen schwitzen, kämpfen und durchhalten. Unerbittlich treibt Cukur sie zu Liegestützen an, an der Wand stehen die Worte "No pain, no gain". Anschließend wird zusammen im Regen geduscht. "Ich wollte, dass die Jungs und Mädels mal was anderes sehen. Dass die verstehen, wie gut es ihnen in München geht", sagt Cukur.

Die Regisseurin des Films, Antje Drinnenberg, hat Cukur über einen Freund kennengelernt. "Der hat erzählt, dass Mütter unter Tränen beim Ali angerufen haben, um ihn zu bitten, dass ihre Söhne bei ihm trainieren können", sagt die Regisseurin. Richter und Sozialarbeiter hätten schwierigen Jugendlichen nahegelegt, bei Cukur zu boxen. "Irgendwann wollte ich mir das selbst angucken und habe mittrainiert."

"Mal ist er wie ein Trainer, mal wie ein Vater, mal wie ein Bruder"

Auch ihr sei dabei die besondere Beziehung zwischen Cukur und den Jugendlichen aufgefallen. "Ich wollte mit dem Film der Frage nachgehen: Wie macht er das? Wie entsteht diese Verbindung?" Zwei Jahre lang hat Drinnenberg den Trainer mit der Kamera begleitet, von 2015 bis 2017. "Ich hätte nie gedacht, dass mein Leben mal verfilmt wird. Das ist ja der Traum von jedem", sagt Cukur über den Film.

Viele Jungen und Mädchen, die der 60-Jährige trainiert hat, sind inzwischen erfolgreiche Erwachsene. Sie arbeiten als Lehrerinnen oder Ärzte. Einer seiner ehemaligen Sportler habe ein Unternehmen für Sportkleidung gegründet, mit Läden in New York, erzählt Cukur. "Nicht alle, die ich trainiere, wollen unbedingt Boxer werden, aber sie wollen Wertschätzung bekommen. Und die kriegen sie bei mir."

Zurück in der Turnhalle der Tölzer Lettenholzschule: Als ihm bei einer Übung eines der Mädchen mit dem Handschuh in die bloße Hand boxt, motiviert er sie mit den Worten: "Du bist echt talentiert. Aus dir machen wir die nächste Regina Halmich. Du bist die stärkste Tölzerin!" Nachdem sich die Kleinen aus der Halle verabschiedet haben, kommen die Älteren zum Training. Cukur gibt in Bad Tölz immer zwei Kurse hintereinander.

Einer der Jungs, die langsam in die Halle schlendern, ist Alparslan Özgisi, 15 Jahre alt. Er trägt Jogginghose und hat eine Wasserflasche dabei. "Hier kann ich mich auspowern und die Probleme und den Stress draußen lassen", sagt er. Özgisi wirkt zielstrebig, seit sieben Jahren trainiert er bei Cukur. Sein Traum wäre es, Kämpfe zu boxen und mehrmals die Woche in München zu trainieren. Bisher ist ihm die Fahrt dort hin allerdings noch zu aufwendig und zu teuer. Fragt man ihn nach seinem Trainer, sagt er das, was fast alle über Cukur sagen: "Der versteht sich einfach sofort mit jedem gut. Mal ist er wie ein Trainer, mal wie ein Vater, mal wie ein Bruder."

Lionhearted - Aus der Deckung läuft aktuell im Kino Capitol in Bad Tölz und dem Kino P. in Penzberg.

© SZ vom 04.10.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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