Bad Tölz-Wolfratshausen:"Außer sich vor Sorgen"

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Afghanische Geflüchtete, die im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen eine neue Heimat gefunden haben, bangen nach der Machtübernahme der Taliban um ihre zurückgebliebenen Familien. Drei Betroffene und eine Flüchtlingshelferin erzählen, was sie derzeit durchmachen.

Von Stephanie Schwaderer, Felicitas Amler, Florian Zick und Kathrin Müller-Lancé, Bad Tölz-Wolfratshausen

Sie leben in der Region, sind mit ihren Gedanken aber momentan weit weg: Drei junge Männer mit afghanischen Wurzeln und eine Flüchtlingshelferin erzählen, wie sie derzeit um all die Menschen bangen, die ihnen wichtig sind, die aber noch in dem jetzt von den Taliban regierten Land gefangen sind. Die Namen der Afghanen sind dabei zum Schutz ihrer Angehörigen abgekürzt.

Ali Zafar M ., 23 Jahre, Bad Tölz: "Ich lebe seit 2015 im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen. Vor einem Jahr habe ich meine Ausbildung zum Optiker abgeschlossen und bin nun in einem namhaften Optikerbetrieb in Tölz beschäftigt. Ich bin finanziell unabhängig, habe eine kleine Wohnung gemietet und bin mehr als dankbar für ein Leben in Frieden, Sicherheit und Demokratie. In diesen Tagen jedoch bin ich außer mir vor Sorgen um meine Familie in Afghanistan. Meine verwitwete Mutter, meine Schwestern und die Familie meines Bruders leben noch in Kabul. Wir gehören der von den Taliban verfolgten Minderheit der Schiiten an und zudem der Minderheit der Hazara, die seit Jahrzehnten rechtlos in Afghanistan leben muss. Dies macht das Leben meiner Familie in Afghanistan nun unmöglich.

Mein Vater war ein moderner Mullah, er hat als Lehrer gearbeitet und ist unter anderem für die soziale und berufliche Gleichberechtigung von Frauen eingetreten. Vor einigen Jahren wurde er von den Taliban gefangen genommen. Nachbarn hatten ihn denunziert und den Taliban verraten, dass er einen aufgeklärten Islam lehrte. In der Haft hat er Grausames erlebt. Er wurde schwer krank und starb. Seitdem leben meine Mutter und wir Geschwister in ständiger Angst.

Meine Familie ist sehr bildungsnah. Alle meine weiblichen Familienmitglieder sind zur Schule gegangen. Wir sind stets eingetreten für Freiheit, Toleranz, Offenheit und Demokratie. Dies stürzt uns nun in die Ausweglosigkeit. Meine Familie wird verfolgt und fürchtet um ihr Leben. Mein großer Bruder ist Mitbegründer einer modernen Schule im Stadtviertel Qala-e-Babu in Kabul namens Taban - eine koedukative Schule mit einem nicht-religiösen Lehrplan. Die Taliban haben die Schule vor einigen Tagen geschlossen und alle Mitarbeiter entlassen. Mein Bruder wird bedroht und ist Repressalien ausgesetzt.

Am vergangenen Freitag haben wir zuletzt telefoniert. Meine Familie versteckt sich in unserem Haus in Kabul. Sie trauen sich nicht mehr hinaus. Sie können nicht arbeiten, haben keinen Zugang zu medizinischer Versorgung und finden keinen Rechtsbeistand. Ihnen drohen Gefängnis und womöglich auch der Tod. Da alle Botschaften in Kabul geschlossen worden sind, gibt es für sie keine Möglichkeit auszureisen, obwohl sie alle Pässe haben. Deshalb habe ich schon an das Auswärtige Amt geschrieben und um Hilfe gebeten. Ich möchte meine Familie zu mir nach Deutschland holen. Ich sehe keinen anderen Weg mehr.

Ich habe noch einen weiteren Bruder, der in München lebt und arbeitet. Wir würden alles auf uns nehmen, um unserer Familie zu helfen. Wir fliegen gerne nach Afghanistan, um bei der Abwicklung der Formalitäten zu helfen, wir übernehmen alle finanziellen Kosten, natürlich auch die Lebenshaltungskosten hier in Deutschland. Meine Familie würde keine sozialen Hilfen in Anspruch nehmen, dafür verbürgen wir uns mit unserem Ehrenwort. Wir arbeiten beide und haben jeweils einen Mini-Job. Auch mein Betrieb und meine deutschen Freunde stehen an meiner Seite und unterstützen mich.

Bei der Caritas in Geretsried mache ich gerade eine Ausbildung zum Kulturdolmetscher und werde dann landkreisweit eingesetzt, um Kindergärten und Behörden zu unterstützen. Ich möchte Deutschland viel zurückgeben für all die Chancen, die ich hier hatte und habe. Ich konnte mir ein selbständiges Leben aufbauen. Genau das wünsche ich meiner Familie. Sie würden alle sofort eine Arbeit annehmen. Wenn mir irgendjemand Hinweise oder Tipps geben kann, ich bin für jede Hilfe dankbar."

Rahmat H., 28 Jahre, Geretsried: "Ich bin 2011 aus Afghanistan nach Deutschland gekommen, seit 2013 lebe und arbeite ich im Landkreis. Ich habe noch einen Onkel und Cousinen in Afghanistan. Sie haben dort für ein amerikanisch-deutsches Unternehmen gearbeitet - bis zur Machtübernahme der Taliban. Daraufhin hat das Unternehmen die ausländischen Arbeitskräfte abgezogen. Die Ortskräfte sind noch da. Meine Familie vor Ort schafft es jetzt nicht mehr, Kontakt zu dem Unternehmen aufzubauen. Auch ein Visum zu beantragen ist sehr schwierig, weil in den Botschaften vor Ort niemand mehr ist.

Ich habe selbst schon versucht, die Deutsche Botschaft per E-Mail zu erreichen. Bisher hat mir allerdings noch niemand geantwortet. Und selbst wenn man ein Visum hat, ist es nicht einfach, auszureisen. Die Taliban stehen ja auch um den Flughafen herum.

Meine Familienmitglieder in Afghanistan haben große Angst. Alle, die mit dem Ausland zusammengearbeitet haben, sind in Gefahr. Die Taliban untersuchen Stück für Stück die Wohnungen. Meine Familie hat sich vor Ort versteckt und geht nur noch in Notfällen aus dem Haus. Zum Einkaufen geht nur die Mutter, weil sie sich mit einem Tuch verschleiern kann. Je länger die Taliban an der Macht sind, desto gefährlicher wird es. Es ist inzwischen sehr schwer, zu meinen Cousinen und meinem Onkel Kontakt zu halten. Telefonieren ist wegen des schlechten Empfangs kaum möglich.

Mir ist es aber nicht nur wichtig, auf die Situation meiner Familie aufmerksam zu machen, sondern auch, zu erklären, was in Afghanistan meiner Meinung nach schiefläuft. Ich glaube nicht, dass sich die Situation für die Leute vor Ort wesentlich verbessert hätte, wenn die Vereinigten Staaten und Deutschland ihre Soldaten dort gelassen hätten. Das Problem in Afghanistan ist seit Langem, dass die normalen Menschen keine Macht haben. Die werden andauernd bevormundet - auf der einen Seite von den ausländischen Großmächten, auf der anderen Seite von den Taliban. So kann sich keine richtige Gesellschaft entwickeln. Ich fände es den richtigen Weg, wenn sich in den einzelnen Provinzen des Landes Regierungen ausbilden würden, also eine Art föderales System. Das Land als Ganzes lässt sich nur schwer regieren."

Qasem R., 29 Jahre, Egling: "Ich mache gerade Heimaturlaub - wobei meine Heimat schon lange nicht mehr Afghanistan ist. Meine Familie ist schon vor 20 Jahren vor den Taliban nach Iran geflohen, sie lebt jetzt in Teheran. Auch dort ist das Leben für Flüchtlinge wie uns nicht leicht. Ohne iranischen Pass darf man dort keinen Führerschein machen, nicht zur Schule gehen - nicht einmal eine Sim-Karte darf man auf den eigenen Namen bestellen. Trotzdem ist es hier natürlich besser als in Afghanistan, gerade jetzt, da uns von dort ständig neue Horrornachrichten erreichen. Von zwölfjährigen Mädchen zum Beispiel, die vergewaltigt werden. Und es sind auch schon wieder so viele Menschen gestorben. Auch, wenn sie das der Weltöffentlichkeit jetzt vorgaukeln wollen, aber die Taliban ändern sich einfach nicht. Das alles zu sehen, das tut mir so weh, dass ich es gar nicht beschreiben kann.

Meine beiden Onkel und mein Cousin leben noch in Herat im Nordwesten von Afghanistan. Da in der Stadt ist es halbwegs erträglich. Da gibt es Internet. Die Leute posten auf Facebook oder Instagram, wie die Lage gerade ist. Vermutlich deshalb wüten die Taliban dort auch noch nicht so. Aber schon 30 Kilometer außerhalb, dort, wo die Leute sich kein Internet leisten können oder es gar keine Verbindung zur Außenwelt gibt, da fürchten sich alle vor den Taliban.

Aus Herat auch hier herüber nach Iran zu fliehen, das können sich meine Verwandtschaft nicht leisten. Das geht momentan auch gar nicht. Es gibt keine Schlepper, die einen durch Talibangebiet leiten. Das ist echt eine Katastrophe. Es hätte auch niemand gedacht, dass nach 20 Jahren Nato- und Uno-Präsenz die Taliban das Land in nur einer Woche komplett überrennen würden.

In Teheran halten wir nun über Whatsapp Kontakt nach Afghanistan. Mehr können wir kaum tun. Denn auch Iran ist ein Corona-Hochrisikogebiet. Nach 22 Uhr gilt hier eine Ausgangssperre. Wir sind deshalb eigentlich nur zu Hause. Und natürlich herrscht hier in meiner Familie große Angst, dass sie gerade jetzt nach Afghanistan zurückgeschickt werden."

Monika Eberl, 75, Eurasburg: "Ich war Realschullehrerin und hatte mich zunächst bei "Arbeit für Jugend" engagiert. Dann wollte ich mal etwas anderes machen. Ich dachte mir, über die Flüchtlinge gibt es so viele Vorurteile, da muss ich mir selbst ein Bild machen. Deshalb habe ich mich 2016 dem Wolfratshauser Helferkreis um Ines Lobenstein angeschlossen. Meine Erfahrung ist, dass die Flüchtlinge alle froh sind, wenn sie arbeiten können. Ich betreue eine afghanische Familie, das heißt, zunächst war es ein Paar, jetzt haben sie drei Kinder. Eine Schwester lebt schon länger hier, sie spricht sehr gut Deutsch mit einem ganz kleinen Akzent. Einer ihrer Schwäger hat in Afghanistan für die Polizei gearbeitet und ist ermordet worden. Jetzt macht sich die Familie große Sorgen um eine Schwester und die beiden anderen Brüder, die noch dort sind.

Sie haben telefonischen Kontakt, verlassen aber das Haus nicht. Der eine Bruder ist Journalist mit internationalem Presseausweis, er war für das Ministerium für Grenzen und Stammesangelegenheiten tätig; der andere hat für den Generalstaatsanwalt gearbeitet. Die Familie hier hat mich um Hilfe gebeten, denn sie wissen gar nicht, was sie tun sollen und können. Sie tun sich so schwer. Wir haben uns an den Verein 'Reporter ohne Grenzen' gewandt, der eine Liste von afghanischen Journalistinnen und Journalisten erstellt, die an das deutsche Außenministerium übergeben werden soll. Außerdem wollen wir an die US-Botschaft schreiben. Ich selbst habe bereits beim amerikanischen Konsulat in München angerufen. Dort heißt es, man soll sich an die US-Botschaft in Berlin wenden. Das werden wir noch versuchen. Außerdem hoffen wir, dass die Reporter ohne Grenzen etwas erreichen."

© SZ vom 27.08.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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