Medizinische Versorgung in Bad Tölz-Wolfratshausen:Ärztlich überversorgt - aber wie lange noch?

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Hausärztinnen und Hausärzte sind gefragt, die örtliche Nähe ihrer Praxen ist für beide Seiten wichtig. (Foto: Christian Endt)

Der Landkreis gilt nach den Maßstäben der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns als gut ausgestattet mit Hausärzten. Doch gerade im Süden sind viele niedergelassene Mediziner bereits im Rentenalter. Schon jetzt müssen Patienten auf dem Land lange Wege in Kauf nehmen.

Von Quirin Hacker, Bad Tölz-Wolfratshausen

Der einzige Hausarzt im Ort schließt, bei Krankheit müssen Patientinnen und Patienten mit dem Auto in die nächste Stadt fahren. Dieses Schicksal ereilte die Reichersbeurer, als vor einigen Jahren Sebastian Schindele seine Hausarztpraxis altersbedingt aufgab. Ein Nachfolger fand sich damals nicht. Doch das hat sich geändert: Im vergangenen Mai eröffnete Johanna Eras in den Räumen des ehemaligen Rathauses ihre Praxis. Die SZ fragte nach, wie es im übrigen Landkreis um die hausärztlichen Versorgung bestellt ist.

"Ein Hausarzt kann nicht zwanzig Kilometer durch die Gegend fahren. Auch für Patienten ist die örtliche Nähe sehr wichtig," sagte Johanna Eras, die heute in Greiling wohnt. "Wenn Sie krank sind, wollen Sie auch nicht mit Grippe oder Fieber Auto fahren. Jetzt haben Patienten einen kurzen Weg und können dann auch wieder zu Hause im Bett sein." Als Schindele aufhörte und seine Patienten nach Bad Tölz, Gaißach oder Waakirchen ausweichen mussten, hätten vor allem Senioren darunter gelitten, sagte Reichersbeuerns Bürgermeister Ernst Dieckmann (FW).

Die Gemeinde bemühte sich um einen neuen Arzt, doch es fehlte an geeigneten Räumlichkeiten und Bewerbern. Zudem galt der Planungsbereich Bad Tölz lange Zeit als überversorgt, weshalb die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns (KVB), keinen Sitz ausschreiben konnte. Sie muss sich bei der Vergaben an die Bedarfsplanungsrichtline halten.

Gesucht und gefunden: Johanna Eras, Fachärztin für Allgemeinmedizin, hat sich in Reichersbeuern niedergelassen. (Foto: Manfred Neubauer)

Mit dem Umzug des Rathauses waren geeignete Räume frei und Eras bekundete ihr Interesse. "Schon als ich hergezogen bin, ist mir aufgefallen, dass es hier eine Versorgungslücke gibt", sagte Eras. "Über Kontakte vor Ort hat sich die Idee verfestigt, hier eine Praxis zu eröffnen." Dann ging alles sehr schnell. Ende September ergab sich eine Zulassungsmöglichkeit, die KVB schrieb daraufhin einen halben Kassensitz aus. Der Gemeinderat unterstütze die Bewerbung der Ärztin, und nach dem Umzug des Rathauses in die Ortsmitte wurden die Räume umgebaut.

Neueröffnungen wie diese sind die Ausnahme, denn das Planungsgebiet Bad Tölz gilt durch Eras' neue Praxis nun wieder als überversorgt. Die Richtlinie zur Bedarfsplanung regelt, wie viele Kassenärzte die KVB in einem bestimmten Gebiet zulassen darf. Demnach ist ein Gebiet zu 100 Prozent versorgt, wenn ein Hausarzt auf 1400 Einwohner kommt. Bis zu einem Versorgungsgrad von 110 Prozent sind neue Zulassungen möglich und die KVB kann neue Sitze ausschreiben. Der Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen ist in zwei Planungsgebiete unterteilt, Wolfratshausen/Geretsried im Norden und Bad Tölz im Süden. Beide gelten derzeit mit etwas mehr als 110 Prozent als überversorgt. "Aktuell könnte sich ein neuer Hausarzt nur niederlassen, wenn er eine Praxis von einem Abgeber übernimmt", sagt Stefano Giusto, der das Beratungscenter Oberbayern der KVB leitet. Für Ärzte sei es meist günstiger, eingeführte Praxen zu übernehmen, weil sie dann über einen Patientenstamm, Mitarbeitende und Infrastruktur verfügen. Außerdem bleibe die Praxis dadurch erhalten, was auch positiv für die Patienten sei.

"Insel der Glückseligen"

Michael Haslbeck, regionaler Vorstandsbeauftragter für Hausärzte bei der KVB, verweist auf die vergleichsweise günstige Versorgung im Landkreis: "Es gibt auch immer wieder Kollegen und Kolleginnen, die sich wegen der guten Lebensqualität hier niederlassen." Auch neu zugezogene Patienten fänden hier noch einen Hausarzt. Das mache Bad Tölz-Wolfratshausen im Vergleich zu anderen Regionen Bayerns zu einer "Insel der Glückseligen". Drastisch fällt der Vergleich zu Oberfranken aus: Im Planungsbereich Kronach-Nord liegt die Versorgungsquote laut Versorgungsatlas bei nur 88,3 Prozent.

Dennoch kann der Weg zum Hausarzt je nach Wohnort auch im Landkreis länger dauern. "Es gibt eine Konzentration in den städtischen Ballungsgebieten", erläuterte Giusto. Haslbeck sagt, auf dem Dorf seien Patienten lange Wege zum Arzt jedoch schon gewohnt. Der Mangel an Ärzten auf dem Land sei ein Strukturproblem aller ländlichen Gebiete.

Das nördliche Planungsgebiet ist durch Geretsried und Wolfratshausen eher urban geprägt. In den beiden Städten seien die meisten Praxen ansässig, dennoch hätten viele umliegende Gemeinden einen Hausarzt im Ort, so Giusto. Im südlichen Planungsgebiet ist das nicht der Fall. Ein großer Teil der Ärzte konzentriert sich in Bad Tölz. Forderungen aus den kleineren Gemeinden an die KVB, einen neuen Kassensitz im Ort zu schaffen, seien in jüngster Zeit nicht eingegangen. Eine Nachfrage im Rathaus Jachenau bestätigte dies. Dort hieß es, in einem 800-Einwohner-Dorf sei eine Praxis nicht sinnvoll.

Viele Hausärzte kurz vor der Rente

In Zukunft könnte sich die hausärztliche Versorgung auf dem Land jedoch verschlechtern. Denn im Planungsgebiet Bad Tölz sind 43 Prozent der Hausärzte 60 Jahre und älter (im städtisch geprägten Wolfratshausen/Geretsried lediglich 18 Prozent). Viele von ihnen seien bereits im Rentenalter, machten aber noch aus Leidenschaft weiter, so Giusto. "Wir bewegen uns auf einen Flaschenhals zu." Damit sei der Landkreis aber nicht allein, es handle sich um eine bayern- und deutschlandweite Problematik. Auf dem Land sei der Altersdurchschnitt besonders hoch. Doch gerade dort sei oft nicht einfach, einen Nachfolger zu finden. "Es stimmt, dass es relativ schwierig ist, Praxen abzugeben. Bei mir war das eine Ausnahme", berichtet Martin Berger, der 33 Jahre lang als Hausarzt in Lenggries gearbeitet hat. Ende März 2020 übergab er die Praxis an seinen Nachfolger Armin Schenn und vertritt seitdem Ärzte bei Krankheit oder im Urlaub deutschlandweit.

Wenig Umsatz und veraltete Ausstattung stünden einer Übergabe oft im Weg. Weil Lenggries aber ein so schöner Ort mit vielen Freizeitmöglichkeiten sei, habe er leicht jemanden gefunden, der die Praxis übernimmt, so Berger. Obwohl er noch gerne weitergearbeitet hätte, habe er seinem Nachfolger schon früher die Stelle überlassen, weil er bereits vier Jahre gewartet hatte. "Ich weiß nicht, ob er noch weiter Geduld gehabt hätte. Und dann wäre ich genau in das Fahrwasser gekommen, dass ich vielleicht meine Praxis hätte abgeben wollen, aber keinen Nachfolger gefunden hätte. Das Risiko war es mir einfach nicht wert."

Dass er mit dieser Sorge nicht allein ist, bestätigt KVB-Sprecher Giusto: "Oft kommt es vor, dass ein Sitz nicht sofort weiterbesetzt wird. Dann herrscht Angst, dass der Sitz wegfällt." Aktuell sei ihm im Landkreis aber kein solcher Fall bekannt.

"Der Zeitaufwand für Ärzte hat sich verringert"

Es gibt vielfältige Gründe dafür, dass wenige junge Ärzte aufs Land ziehen wollen. "Ich denke, viele sind einfach in der Stadt aufgewachsen und sozialisiert", sagte Eras. Eine Praxis zu übernehmen und sich selbstständig zu machen sei auch ein Risiko. In der Stadt fingen junge Ärzte häufig in einem medizinischen Versorgungszentrum oder einer Gemeinschaftspraxis an. Diese Modelle lasse sich aber nicht auf den dünn besiedelten ländlichen Raum übertragen.

Berger vermutet, dass junge Menschen mehr Wert auf Freizeit legen und deshalb den Zeitaufwand scheuen, der mit einer Hausarztpraxis auf dem Land einhergeht. "Es war schon stressig. Man war zeitlich unter Druck, und oft hat es am Abend auch sehr lang gedauert", so der Arzt im Ruhestand. "Da hat bestimmt auch die Familie darunter gelitten, das muss ich im Nachhinein sagen." Trotzdem habe er immer gerne als Landarzt gearbeitet. Mit der Reform des Bereitschaftsdienstes 2020 habe sich der Zeitaufwand deutlich verringert, weil Ärzte weniger Dienste übernehmen müssten. "Da kann jeder eigentlich, ohne rot zu werden, den Anrufbeantworter einschalten und Schluss ist."

Die Angst vor dem Regress

Ein anderer Grund seien die bürokratischen Vorgaben der KVB. "Wenn du nach deinem Gewissen verordnest, kommst du fast unweigerlich in den Regress rein", sagt Berger. Regress bezeichnet Rückzahlungen von Ärzten an die Kassen, wenn ihre verschriebenen Leistungen von einem erwarteten Wert zu stark abweichen. KVB-Sprecher Giusto sagt hingegen, dass Regress wegen übermäßiger Arzneimittelverschreibungen seit Juli 2015 in Bayern keine Rolle mehr spiele, weil seitdem die Wirkstoffvereinbarung gelte. Auch Eras erwähnt die Angst vor Regress als mögliche Hürde für angehende Hausärzte. Deren Mangel sei ein allgemeines Problem, aber "er macht sich natürlich am Land schneller bemerkbar als in der Stadt".

Ob die Versorgung von Hausärzten auf dem Land erhalten bleibt, hängt von zwei Faktoren ab. Einerseits von der Vielzahl der überregionalen Initiativen, die ländliche Hausarztpraxen fördern; von der Landarztquote im Medizinstudium des bayerischen Gesundheitsministeriums, den KVB-Zuschüssen für Praxisneueröffnungen auf dem Land und der Förderung von Weiterbildungen durch die Krankenversicherungen. Dass aber auch die Initiative vor Ort Früchte tragen kann, zeigt die Praxis Eras in Reichersbeuern.

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