Interview zum Tourneeauftakt:Ein Traum, der bleibt

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Mit jungen, frischen Talenten geht eine neue "West Side Story"-Produktion vom Deutschen Theater München aus auf Tournee. (Foto: Jeff Busby)

1961 erlebte Leonard Bernsteins "West Side Story" am Deutschen Theater in München seine Deutschlandpremiere. Jetzt steht dort eine Neuproduktion in den Startlöchern. Ein Gespräch mit Alexander Bernstein über sein Leben mit dem berühmten Vater, Spielbergs Verfilmung und die politische Relevanz des Musicals.

Von Michael Zirnstein

Seit 50 Tagen probt ein internationales Team aus 34 jungen Darstellern und 20 Musikern für die Premiere einer neuen Tournee-Produktion der "West Side Story" im Deutschen Theater München. An diesem Ort wurde das "No. 1 Greatest Musical of All Time" ( The Times) 1961, schon vier Jahre nach seiner Uraufführung in Washington, zum ersten Mal in Deutschland aufgeführt. Das neue Produktionsteam um Lonny Price ("Sweeney Todd" mit Emmy Thompson, "Sunset Boulevard" mit Glenn Close) hält dabei engen Kontakt zu Alexander Bernstein, der von New York aus über das Werk seines Vaters wacht, des großen Komponisten und Dirigenten Leonard Bernstein. Man erreicht ihn dort via Zoom zum Gespräch.

SZ: Kommen Sie zur Premiere?

Alexander Bernstein: Ja, erst eine Preview, dann die Premiere. Ich freue mich sehr drauf. Ich war bisher nur einmal in München, für ein Mittagessen.

Es gibt eine Verbindung Ihres Vaters nach München. Er war der erste Dirigent aus den USA nach dem Zweiten Weltkrieg, der nach Deutschland kam. Im Prinzregententheater leitete er am 9. Mai 1948 das Bayerische Staatsorchester. Ein außergewöhnlicher Akt für einen jüdischen Künstler. Tags darauf spielte er mit Überlebenden des Holocaust vor 10 000 ehemaligen Häftlingen in den ehemaligen Konzentrationslagern in Landsberg und Feldafing.

Das habe ich gehört. Es muss sehr emotional für ihn gewesen sein. Viele in den USA waren damals noch lange nicht bereit für solche versöhnlichen Akte.

Alexander Bernstein ist das zweite von drei Kindern des New Yorker Komponisten und Dirigenten Leonard Bernstein. Er ist Vizepräsident und Schatzmeister des Leonard-Bernstein-Office, Präsident der von seinem Vater gegründeten Bildungsorganisation "Artful Learning". Er selbst arbeitete als studierter Schauspieler und Theater-Lehrer. (Foto: Whitney Browne)

Ihr Vater engagierte sich auch gegen den Vietnamkrieg und gegen die Rassendiskriminierung. War Politik ein Thema bei Ihnen zu Hause?

Ja, meinem Vater und meiner Mutter lag soziale Gerechtigkeit sehr am Herzen. Wir sprachen am Esstisch ständig über Politik und die Probleme der Welt. Die "West Side Story" spiegelt genau seine Weltsicht, auch die seiner Mit-Schöpfer Jerome Robins, Stephen Sondheim und Arthur Laurents. Mein Vater hatte eine Kopie von "Romeo und Julia", auf die er sich bezog, auf die erste Seite hatte er geschrieben: "Durch und durch ein Plädoyer für Toleranz!" Es war sein Mantra für die ganze Show.

Dabei sollte die "West Side Story" anfangs einen ganz anderen Konflikt aufzeigen: Den zwischen Juden und Katholiken in New York. Warum hat Ihr Vater das geändert?

Richtig, ursprünglich sollte es als "East Side Story" an der Lower East Side spielen, zur Zeit von Ostern und Pessach. Aber mein Vater war davon musikalisch überhaupt nicht inspiriert. Erst als man zu den Gangs der Immigranten und armen Weißen wechselte, machte es klick: dieser Widerstreit zwischen der heißen Latino-Musik und dem schrägen Cool Jazz.

Nachdem das Stück 1957 uraufgeführt wurde, gab es kaum noch Veränderungen.

Das stimmt, die Bühnenproduktion ist auf der ganzen Welt immer sehr ähnlich. Gut, man ändert die Kostüme und die Kulissen ein wenig. Es gibt ja Produktionen in der Mailänder Scala genauso wie bei Schultheatergruppen. Aber die Musik, der Tanz, die ganze Show bleibt immer dieselbe.

Choreograf Julio Monge bei den Proben der neuen "West Side Story"-Produktion in New York. (Foto: Whitney Browne)
Regisseur Lonny Price, ein langjähriger Freund der Familie Bernstein, bei den Proben in New York. (Foto: Whitney Browne)

Die Oscar-prämierte Verfilmung von 1961, die viele bei uns noch aus dem English-Unterricht kennen, wich davon aber ab. Der neue Film von Steven Spielberg ist wieder näher am Original. Ihr Einfluss als Berater?

Naja. Ich stand für Fragen bereit. Es war wirklich eine der größten Erfahrungen meines Lebens, dass ich den Prozess am Set begleiten durfte. Der neue Film ist fantastisch, er hat ein komplett neues Buch von Tony Kushner, die Musik ist grandios gespielt von den New Yorker Philharmonikern.

Haben Sie mal die Hand gehoben und gesagt: "Nein, Herr Spielberg, so geht das nicht!"

Haha, das hätte ich tun können, musste ich aber nicht. Wir redeten, manchmal fragte er mich was.

Die "West Side Story" wird immer noch mit der Original-Choreografie ihres Erfinders Jerome Robbins getanzt. (Foto: Jeff Busby)

Zum Beispiel?

Einmal beim "Dance At The Gym", da spielt diese alberne kleine Melodie, und wenn sie stoppt, muss jeder mit dem Erstbesten tanzen. Spielberg wollte das Spielchen ausdehnen, und er fragte, ob man das Stück für die Szene länger spielen dürfe. Ich sagte: Na, klar, machen Sie nur.

Sie können Ihr Veto schon bei so kleinen Details einlegen. Mit dem Vorbild, "Romeo und Julia", darf jeder Regisseur machen, was er will. Warum sind Sie so streng?

Nun, die "West Side Story" ist eben nicht 500 Jahre alt. Die Rechte sind immer noch im Besitz der Erben der vier Urheber. Wir lieben interessante neue Sichtweisen drauf. Aber es müssen eben alle vier Seiten allen Produktionen und Änderungen zustimmen, das macht es etwas kompliziert. In etwa 50 Jahren geht das Stück in den Besitz der Allgemeinheit über, dann dürfen alle damit machen, was sie wollen.

Haben Sie bei der neuen Produktion einen Blick auf die Partitur geworfen?

Dafür haben wir Garth Sturiale, er ist in München und hat das Stück neu orchestriert. Ich bin nicht wirklich ein Musiker, das Talent meines Vaters hat mich übersprungen.

Hatten Sie keinen Klavierunterricht bei Ihrem Vater?

Gott sei Dank nicht bei ihm! Ich hatte Stunden bei einer ganzen Reihe von Klavierlehrern, die haben sich echt bemüht. Ich mich nicht, ich war faul, ich hab's einfach nicht hinbekommen. Dafür habe ich mich eine Weile als Schauspieler versucht.

Sie haben mit Ihrer Schwester Nina 1980 für eine Platte der Deutschen Grammophon mit Jose Carreras Toni und Maria gesprochen, Ihr Vater war der Regisseur. Waren Sie aufgeregt?

Aufgeregt und eingeschüchtert. Mein Vater dirigierte, wir mussten auf den richtigen Einsatz achten. Der war schwer vorherzusehen, mein Vater hob nur kurz seine Augenbraue. ( lacht) Ich glaube, er hat uns nur ein bisschen aufgezogen ...

2023 kommt der Film "Maestro" heraus, Bradley Cooper spielt darin Ihren Vater. Haben Sie da auch mitgeredet?

Meine Schwestern und ich sind seit Jahren im Gespräch mit Bradley Cooper. Er ist so engagiert. Er ist auch Regisseur, Produzent und schreibt am Drehbuch mit. Unglaublich. Erst wollte er nur einen Film über einen Dirigenten machen. Je mehr er über meinen Vater erfuhr, umso mehr ergriff es ihn.

Wie ging es Ihnen damit, dass das Privatleben Ihrer Familie im Mittelpunkt eines Hollywood-Films steht: Seine Liebe zu Ihrer Mutter, aber auch die Trennung und die Affären?

Ich habe mein ganzes Leben gelernt, damit umzugehen. Da war schon viel Schmerz, durch den meine Mutter durchgehen musste wegen seiner Affären zu Frauen und Männern, aber die beiden liebten sich wirklich. Es war durchaus interessant, bei diesem Film dabei zu sein und noch mal einen Schritt zurückzutreten und alles wie eine andere Person zu sehen.

Wie war es für Sie als Kind, so einen weltberühmten Papa zu haben?

Nun, er nahm uns mit auf Reisen in die ganze Welt. Und ich wusste, dass er in New York bekannt war, weil er auf der Straße und in Restaurants gegrüßt wurde. "Hi, Lenni", das liebte er. Aber so richtig kapierten wir es erst, als meine Schwester Jamie und ich mal "Familie Feuerstein" im Fernsehen sahen. Wilma sagte da: "O, Fred, lass uns in die Hollyrock-Bowl gehen, ich liebe Lenni Bernstone. Er spielt Rockmaninoff." Uns fiel die Kinnlade runter: "Er ist bei den Feuersteins! Unglaublich, er ist berühmt."

Wie oft haben Sie die "West Side Story" gesehen?

Ich habe aufgehört zu zählen. 1000 Mal? Ich habe sie mal an der Schule, an der ich unterrichtet habe, inszeniert; ich habe darin selbst gespielt; ich habe sie an Opern und in Laientheatern gesehen. Und ich liebe sie noch immer, am Ende bin ich jedes Mal aufgeregt: Vielleicht schießt Chino ja diesmal daneben!

Aber es bleibt dabei: "Somewhere" bleibt ein Traum von einer besseren Welt. Auch 70 Jahre nach der Uraufführung sind die Probleme der Immigranten, die Polizeigewalt nicht vorbei.

Unglücklicherweise ist das Stück heute so relevant wie eh und je. Aber deswegen kann man die Hände nicht in den Schoß fallen lassen und aufgeben. Man kann nicht singen, dass der Platz für die Liebe "nowhere" ist.

West Side Story, Mi., 14. Dez., bis So., 8. Jan., München, Deutsches Theater

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