Unterstützung für Eltern:Wenn der Baby-Blues nicht aufhört

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Drei Monate lang hat Stefanie Wittmann (rechts) die Familie Bellaid regelmäßig besucht und geholfen, wo es nötig war. (Foto: Lisa Böttinger)

Der normale Alltagswahnsinn nach einer Geburt kann ziemlich überfordern - die "frühen Hilfen" bieten Eltern und Kindern eine gemeinsame Starthilfe.

Von Lisa Böttinger

Draußen strahlt die Sonne, als Tanja Bellaid im Halbdunkel ihrer Wohnküche den Frühstückstisch abräumt. Es ist Mittag. "Wir kriegen langsam wieder einen Rhythmus in unseren Alltag", sagt die 40-Jährige, die vor fünf Monaten ihren zweiten Sohn entbunden hat. Emil (die Namen von Eltern und Kindern sind geändert) liegt still in seiner Babyschale auf der Eckbank, neben ihm ein halbaufgegessenes Käsebrot.

Die Mutter bemüht sich, schnell ein wenig aufzuräumen, sie schenkt Apfelschorle ein, bietet Kaffee an. Heute ist Besuchstag, der letzte nach drei Monaten. So lange hat die Sozialpädagogin Stefanie Wittmann vom "Münchner Modell der Früherkennung und frühen Hilfen" Bellaid regelmäßig zu Hause besucht. Sie hat zugehört, wenn Tanja Bellaid von ihrem depressiven Ehemann erzählt hat. Sie hat Anträge auf Elterngeld ausgefüllt, an denen Bellaid, obwohl sie deutsche Muttersprachlerin ist, fast verzweifelt wäre. Und sie hat Tipps gegeben, wie man Josua, den vierjährigen Erstgeborenen, weg vom Fernseher bringt.

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Jetzt sitzt sie bei den Bellaids in Pasing auf dem Wohnzimmerteppich und kitzelt Emil am Bauch. "Er ist schon viel beweglicher geworden", sagt sie und strahlt Emils Mutter an. Die blickt von der Couch aus auf ihr Baby, das vor Vergnügen gurgelt. Ein Lächeln huscht über ihre Lippen, die Augen haften auf dem Kind.

Die Frage, die ständig im Kopf war: Was ist, wenn ich mal nicht mehr kann?

"Ich hatte immer Angst, er würde sich auf dem Boden eine Erkältung holen oder sein großer Bruder könnte auf ihn treten", sagt Bellaid. Obwohl Emil das zweite Kind ist, habe sie immer große Unsicherheit gespürt. Nach einem komplizierten Kaiserschnitt hat sie zunächst starke Schmerzen, muss erneut in die Klinik, verblutet fast. Wochenlang kann sie nicht schlafen, ihr Baby ist ein Schreikind, der Mann findet keinen Job, die tunesische Schwiegermutter kommt angereist. "Sie hat sich hier aufgeführt, als wäre sie die Mutter", daran erinnert sich Bellaid. Und an die Frage, die ihr ständig im Kopf herumschwirrte: Was ist, wenn ich mal nicht mehr kann?

Schlafmangel, ständige Verfügbarkeit und wenig Zeit für sich selbst und den Partner - die ersten Jahre mit Kind können ganz schön an den Nerven zehren. "Trotzdem denken sich viele junge Familien: Unsere Schwierigkeiten sind es doch gar nicht wert, gehört zu werden, andere haben viel größere Probleme", sagt Wittmann, die auch als systemische Familientherapeutin ausgebildet ist.

Ihre Erfahrung ist, dass nicht nur Familien mit Migrationshintergrund, psychosozialer Problematik oder niedrigem Einkommen unter dem anfänglichen Stress leiden. "Ich betreue auch gut situierte Akademikerfamilien. Die haben ein Haus gebaut, ein Kinderzimmer eingerichtet, alles geplant - und dann gerät plötzlich alles aus dem Ruder."

Drei Monate Unterstützung, bis zum dritten Lebensjahr des Kindes

Mit den "frühen Hilfen" in München können Familien für einen Zeitraum von drei Monaten Unterstützung für sich und den Nachwuchs holen. Das Angebot gilt bis zum dritten Lebensjahr. In dieser Zeit sind Eltern oft überfordert. Das Angebot soll im Endeffekt den Kindern zugutekommen, sagt Wittmann. "Es geht immer darum, die Bindung innerhalb der Familie zu stärken - dann kann man mit allem umgehen." Und im Zweifel werden die Familienmitglieder weitervermittelt, an eine Paartherapie, eine Mutter-Kind-Gruppe oder die ambulante Erziehungshilfe.

Im Fall der Bellaids trug eine Eheberatung dazu bei, dass sich beide Partner wieder ebenbürtig fühlen, die Mutter nicht mehr alleine die Verantwortung trägt. Tanja Bellaids Ehemann macht jetzt eine Umschulung zum dreisprachigen Dolmetscher.

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Babyschwimmen, Still-Treffs und Krabbelgruppen - an kommunalen Angeboten für junge Eltern mangele es zwar nicht, sagt Mechthild Paul, die Leiterin des "Nationalen Zentrums Frühe Hilfen". "Aber wir müssen dafür sorgen, dass die vielen Hilfsangebote auch rechtzeitig in der Lebenswelt der Familien ankommen, ohne dass sie aktiv suchen müssen." Von "Empowerment" redet auch Stefanie Wittmann. Die Angebote sind da, einer gestressten Mutter fehlten aber oft Zeit und Nerven, um sich neben einem schreienden Säugling auch noch um ein passendes Freizeitprogramm zu bemühen. Genau da holt Wittmann die Mütter ab.

In München vermitteln Kinderkrankenschwestern den Zugang zu den frühen Hilfen, sie sind oft die ersten Außenstehenden, die mit einer jungen Familie in Kontakt kommen. Ihre vor allem medizinische Hilfe wird bereits in vielen Geburtskliniken angeboten, wenn die Familie mit dem Baby nach Hause geht. Wird später ein Antrag an die frühen Hilfen weitergeleitet, kommen Wittmann und ihre Kolleginnen zum Einsatz - wenn die Familie das möchte. Knapp 730 Familien haben die Unterstützung 2014 in München in Anspruch genommen, bis Ende September 2015 waren es bereits 629.

Im Landkreis München finden Familien über die Fachberatungsstelle "AndErl - Guter Anfang im Kinderleben" im Landratsamt München und über Hebammen, Kinderärzte oder Gynäkologen den Zugang zu den frühen Hilfen. Von "AndErl" finanzierte Familienhebammen begleiten junge Familien bei Bedarf während ihres ersten gemeinsamen Jahres, in besonderen Fällen wie plötzlicher Krankheit oder Arbeitslosigkeit bietet die Fachstelle für drei bis vier Monate unter anderem eine spezielle Familienpflege an.

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Deutschlandweit gibt es regionale Unterschiede bei der Dauer der Unterstützung durch frühe Hilfen - mancherorts können Mütter sie schon während der Schwangerschaft in Anspruch nehmen. Kostenlos, freiwillig und unverbindlich ist das Angebot überall. Trotzdem macht Carmen Dornbusch-Höpfl, die als Familienhebamme im Landkreis München arbeitet, immer wieder die gleichen Erfahrungen wie Stefanie Wittmann in München: "Die Eltern denken sich, bei uns ist es doch nicht so dramatisch." Sie sagt, dass "AndErl" sich an alle Eltern mit Kindern bis zu drei Jahren richtet, "auch, wenn es um ganz banale Unsicherheiten geht".

Tanja Bellaids Wohnung ist ruhig und aufgeräumt, im Waschbecken spiegelt sich der Blümchendruck der Badezimmerfliesen. Dann fängt Emil an zu quengeln. Bellaid geht in die Küche, um ihm ein Fläschchen zu machen. "Die Mütter müssen eigentlich nur lernen, dass sie selbst in der Regel am besten wissen, was ihrem Kind gut tut", sagt Wittmann. "Dafür muss es der Mutter aber selbst ausreichend gut gehen."

Emil nuckelt jetzt zufrieden. "Es tut gut, sich alles mal von der Seele zu reden," sagt Tanja Bellaid mit dem Fläschchen in der Hand, das Kind auf ihrem Schoß. Sie hat ein türkisfarbenes Schaffell gekauft, damit Emil am Boden nicht friert. Aus dem Budget der frühen Hilfen konnte Wittmann den beiden außerdem einen Babymassage-Kurs finanzieren. Am Anfang hat sie sie dorthin begleitet - bis zur Tür, dann gingen Mutter und Kind alleine weiter.

© SZ vom 22.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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