Wachstum in München:Die fabelhafte Welt der Amelia

Wachstum in München: Babyboom: Amelia heißt das 1,5-millionste Münchner Kindl.

Babyboom: Amelia heißt das 1,5-millionste Münchner Kindl.

(Foto: Stephan Rumpf)

Seit Jahren diskutiert die Stadt, wie sie die Folgen ihres Wachstums bewältigt. Doch der Leidensdruck steigt - symbolisch steht dafür ein kleines Mädchen.

Von Frank Müller

Als am Ende dieses verrückten Jahres bei einem Immobilienportal plötzlich ein Angebot auftaucht für ein 50-Quadratmeter-Appartement im Gärtnerplatzviertel zur Monatsmiete von 3000 Euro kalt, da wundert sich auch keiner mehr so richtig. In der Redaktion wägen wir die Indizien ab, die für eine Fälschung oder eine reale Offerte sprechen. Interessanterweise ist es nicht der Hammerpreis von 60 Euro pro Quadratmeter, der am meisten dafür spricht, dass es hier um ein womöglich aus satirischen Gründen erfundenes Angebot geht (was der Bauherr dann auch bestätigt). Viel auffälliger ist: Die fiktiven Nebenkosten sind mit 100 Euro inklusive Heizung verdächtig niedrig.

Daran, dass es immer nur aufwärts geht mit den Ausgaben für die Wohnung, hat sich der Münchner nun so lange Zeit gewöhnen können, dass er weiß: Irgendwann sind es eben 60 Euro. Auch die Mass Bier auf der Wiesn wird, wenn die Münchner Welt nicht gnädigerweise vorher untergeht, irgendwann 60 Euro kosten.

Und selbst die Streifenkarte beim MVV, die sich trotz Handytickets, Tarifreformen und kommender Weltuntergänge weigert, einfach mal auszusterben, wird irgendwann . . . - ganz genau, mehr als 60 Euro kosten. Alles wächst in München immerzu: die Preise, die Einwohnerzahl, die Wirtschaft. Das ist in anderen Städten auch so. Aber nirgendwo sind die Herausforderungen so zu spüren wie in der am dichtesten besiedelten Stadt der Republik. In der Stadt, in die jeder will und die dann alle irgendwann stresst.

Seit 1972 hat sich der Preis für eine Stadtfahrt versechsfacht

Beim Verkehr ist das Wachstum mit am deutlichsten ablesbar. Um noch einmal auf den MVV zu kommen: Seit dem Olympiajahr 1972 hat sich der Preis für eine Stadtfahrt annähernd versechsfacht. Wer nun zum Taschenrechner greift, der mag sich ausrechnen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass er die 60-Euro-Streifenkarte noch erlebt. Andererseits gibt es natürlich für alle diese Preissteigerungen auch sehr gute Gründe. Die Inflation steigt, München wächst, das MVV-Netz mit ihm.

Womöglich werden dann, sagen wir im Jahr 2060, in den Zeitungen (ja, auch die gibt es dann noch!) weiter flammende Kommentare stehen: Angesichts der überreichlichen Tariferhöhung des Jahres 2059 sei es doch unfassbar, dass es noch immer keinen verbindlichen Zeitplan für den Bau der zweiten S-Bahn-Stammstrecke gibt. Tags drauf wird sich dann der bayerische CSU-Verkehrsminister (ja, CSU!) zu Wort melden. Er wird einen Baubeginn bis 2064 versprechen, das gesamte Finanzierungskonzept komme aber noch einmal auf den Prüfstand.

Der an die Beharrungskräfte seiner Stadt gewöhnte Münchner tut sich leicht damit, sich solche Gedanken vorzustellen. Zu oft hat er immer neuen Versprechungen geglaubt, jetzt stehe München aber wirklich vor dem Durchbruch bei diesem und jenem. Seit den 1990er-Jahren redet die Stadt über den zweiten S-Bahn-Tunnel durch die Stadtmitte.

Eine Prophezeiung, mehr nicht

Bis heute erweist sich das als eine Prophezeiung, die an die Luftspiegelung einer Oase in der Wüste erinnert. Der Verdurstende rückt vermeintlich näher an sie heran, und - plopp! - weg ist sie. Und weil alles immer auf das paradiesische Heilsversprechen einer ganz großen Lösung für alle Verkehrsprobleme starrt, unterbleibt in der Zwischenzeit vieles von dem, was als kleine Verbesserungen im MVV-Netz denkbar gewesen wäre.

Andererseits: Vielleicht spricht auch einiges dafür, dass das Jahr 2015 ein Wendepunkt in diesem immer gleichen Lamento gewesen sein könnte. In dem geht es nun schon seit Jahrzehnten darum, wie schwer sich München mit den Herausforderungen durch sein eigenes Wachstum tut. Spätestens seit den Achtzigerjahren, als der damalige Oberbürgermeister Georg Kronawitter seine Dampfkesseltheorie entwickelte: München stehe so unter Druck, dass man etwas Dampf ablassen müsse und nicht weiterwachsen dürfe um jeden Preis.

Seitdem ist München gewachsen wie verrückt. In diesem Jahr ist das auch für diejenigen, die sich sonst nicht mit Stadtplanung befassen, so sichtbar geworden wie lange nicht. Alleine der Sprung über die Marke von 1,5 Millionen Einwohnern, den München mit der Geburt der kleinen Amelia Meyer machte, ist ein Signal. Die vielen Flüchtlinge, die neu in die Stadt kamen, sind ein weiteres.

Kollabierende S-Bahn-Verbindungen, explodierende Immobilienpreise

Wer hinsehen wollte, der konnte in diesem Jahr ganz viele Entwicklungen betrachten, die Kronawitters Dampfkochtopf wie einen harmlosen Eierkocher aussehen lassen: Kollabierende S-Bahn-Verbindungen. Katastrophale Stautage auf den Straßen trotz oder wegen eines gigantischen neuen Tunnels. Immobilienpreise, die bis weit in den Münchner Speckgürtel hinein explodieren. Die enormen Schwierigkeiten, in der vollgepfropften Stadt noch so etwas Grundharmloses wie einen Konzertsaal unterzubringen.

Doch dass dies am Ende gelungen zu sein scheint, ist auch ein Zeichen dafür, dass München schon noch die Kraft hat, wenn es drauf ankommt. Neuerdings gibt es, gerade beim Wohnungsbau, aus dem Rathaus Ideen, die man früher nicht zu denken wagte: Parkplätze überbauen, Miniwohnungen mit abgespeckten Baustandards schaffen - das sind Gedanken, die München verändern werden, weil die Stadt sonst den prognostizierten Zustrom weiterer Hunderttausender nicht bewältigen kann. Die spannende Frage der nächsten Jahre wird sein: Ist die Stadt nur eine Getriebene bei diesem Wandel - oder gestaltet sie ihn selbst?

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