Mathematik und Kunst - und zwar beides zusammen - können die Welt retten. Findet jedenfalls Susana, Redakteurin der Lasslinger Umschau und eine der vielen Personen in "Spukhafte Fernwirkung", dem neuen Roman von Ulrike Anna Bleier. Mathilda, eine andere Figur, interessiert sich für Kernphysik, seitdem sie in einer Shopping Mall eine Tasse mit Atommodell-Dekor gekauft hat. Ohne Zweifel schreibt hier eine Schriftstellerin, die große Sympathie für Zahlen und physikalische Experimente hegt. Und ihre Begeisterung dafür nutzt, um ein beeindruckend vielstimmiges Bild unserer Gesellschaft zu entwickeln.
In Bleiers Roman geht es um nichts weniger als um Gleichzeitigkeit und Zufall. Es gibt keine zielgerichtete Handlung, die Texte sind, scheinbar willkürlich, aneinander gereiht. Den Titel hat die Autorin der Quantenphysik entliehen. Dass die Zustandsänderung eines Quantenteilchens sofort auch das andere Teilchen beeinflusst, obwohl sie weit voneinander entfernt sind, fasziniert Bleier. Albert Einstein glaubte nicht an die "spukhafte Fernwirkung", wie er das Phänomen spöttisch nannte, sie passte nicht zu seiner Relativitätstheorie. Ein Irrtum. Der Nobelpreis für Physik ging in diesem Jahr jedenfalls an drei Wissenschaftler, die seit Jahrzehnten die spukhafte Fernwirkung oder, genauer gesagt, das enge Beziehungsgeflecht von Quantenteilchen erforschen.
Bleier ist keine Physikerin, doch sie überträgt den Gedanken des Geflechts auf ihr Schreiben. Die Figuren des Romans wimmeln wie Teilchen zwischen anderen Teilchen umher, sie kennen einander meist nicht. Doch im Laufe des mehr als 400 Seiten dicken Buchs kreuzen sich ihre Wege, oft bloß für Sekunden, auf Autobahnraststätten oder Busbahnhöfen, in Einkaufszentren oder Krankenhäusern. In kurzen Episoden und Momentaufnahmen, aus der Sicht der jeweiligen Figur geschrieben, breitet Bleier eine Fülle von Einzelschicksalen aus.
Ein Amoklauf im Einkaufszentrum
Die meisten ihrer ungezählten Protagonisten sind damit beschäftigt, den Alltag zu bewältigen. Sie verreisen, verlieben sich, lassen sich scheiden, erziehen Kinder, verlieren Jobs oder Freunde, verdienen zu wenig Geld, sehnen sich nach Anerkennung - der ganz normale Wahnsinn des Lebens. Manche Gestalten tauchen nur kurz auf und verschwinden wieder, andere trifft man immer wieder. Die Bettlerin Silvana etwa, die Journalistin Irma oder die gut strukturierte Clara, die Überraschungen "als Geschenke getarnte Lebensverschlechterungen" verabscheut. Dass es sie nicht überrascht, im Einkaufszentrum "Europa" während eines Amoklaufes angeschossen zu werden, überrascht sie dann doch. Silvana, die nie aufblickt und von Menschen nur Oberschenkel, Unterschenkel und die beschuhten Füße wahrnimmt, erkennt das dramatische Ereignis nur an den deutlich mehr Beinen, die an ihr vorbeirennen. Die zögerliche Irma verpasst die Chance, sich in der Sonderkonferenz ihrer Redaktion zu melden, um ins Einkaufszentrum rüberzufahren und live vom Amoklauf zu berichten.
Sich in dem vielstimmigen Sammelsurium zurechtzufinden, ist nicht schwierig. Bleier, 1968 in Regensburg geboren, erzählt nüchtern, unpathetisch, lakonisch. Sie beobachtet genau, psychologisiert nie, schichtet Detail auf Detail. Sie erzählt nicht zum ersten Mal in kurzen Textsequenzen. Ihren ersten Roman "Schwimmerbecken" hat sie aus 57 Episoden geknüpft, die Geschichte einer symbiotischen Geschwisterliebe, die 2017 auf der Hotlist der zehn besten Bücher aus unabhängigen Verlagen landete. Ihm folgte "Bushaltestelle", eine Geschichte über familiäre Sprachlosigkeit und das Ringen um gegenseitige Wahrnehmung.
"Spukhafte Fernwirkung" hat Bleier in acht große Kapitel gegliedert. Jedes hat ein eigenes Ordnungsmerkmal. Das können mathematische oder physikalische Formeln sein, Kilometerangaben, Jahreszahlen, Blutdruckangaben. Nur in wenigen Momenten - es sind nicht die stärksten des Romans - verwandelt sich Bleier in eine allwissende Erzählerin, weiß, wie lange eine Figur noch zu leben hat.
Irgendwann endet das Buch. Die Texte könnten unbegrenzt fortgesetzt werden. So wie die Häkelarbeiten der Bettlerin Silvana, die auch nie enden. Aus gutem Grund: "Erklären ist nur ein Moment, Häkeln für die Ewigkeit. Zumindest hält es eine Weile."
Ulrike Anna Bleier: Spukhafte Fernwirkung. Edition Lichtung , Viechtach. Lesung am 7.12., 19 Uhr im Kulturzentrum Degginer, Wahlenstraße 17, Regensburg