Medizin:Der Suchttherapeut und seine eigene Sucht

Lesezeit: 4 min

Suchtarzt Tobias Rüther arbeitet in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in München. (Foto: Stephan Rumpf)

Tobias Rüther setzt seinen medizinischen Ehrgeiz daran, Menschen vom Rauchen abzubringen. Er selbst hat - zugegeben - harmlosere Passionen: die Musik von Richard Wagner zum Beispiel.

In Tobias Rüthers Büro steht ein Sessel, den er vor dem Sperrmüll gerettet hat. Niemand sonst aus dem Kollegenkreis sei an dem Vintage-Stück aus dem vergangenen Jahrhundert interessiert gewesen. Sagt jedenfalls Rüther. Der Sessel steht auf dünnen Beinen, sein Veloursüberzug in hellem Teddybär-Braun ist tadellos. Rüther, Oberarzt in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in der Münchner Nußbaumstraße, wird dafür sorgen, dass dies so bleibt. Denn er hat Sinn für schöne Dinge und Geschichte. Als er vernahm, dass das gemütliche Sitzmöbel Alois Alzheimer (1864-1915) gehörte, griff er zu.

Alzheimer, der berühmte Psychiater und Neuropathologe, kam 1903 nach München und begann in der frisch eröffneten "Nervenklinik" an der Nußbaumstraße mit seinen Forschungen. Alzheimers Beobachtungen bei der Patientin Auguste D. und schließlich die Untersuchung ihres Gehirns, das er sich nach deren Ableben schicken ließ, hat der Welt das Bewusstsein für die Demenzerkrankung gebracht. In wenigen Wochen werde eine Impfung für Alzheimer-Patienten auch in Deutschland zugelassen, erzählt Rüther. Es ist eigentlich nicht sein Thema, aber der Fortschritt der Forschung freut ihn ganz offensichtlich.

Dieser Sessel gehört einst Alois Alzheimer. (Foto: Stephan Rumpf)

Rüther bietet in seinem Büro einen Platz auf einem Sofa an. Der Alzheimer-Sessel bleibt in Sichtweite, während man sich mit Rüther über seine Arbeit in der ehrwürdigen Innenstadtklinik der LMU unterhält. Das Haus heißt heute im Volksmund salopp nach seinem Standort "die Nußbaumstraße", früher war es eher unter dem ersten Leiter als Kraepelin-Klinik bekannt. 220 Betten gibt es hier, außerdem einen Vorlesungssaal. Anders als die Klinik in Haar, mit der die Ärzte eng zusammenarbeiten, wird hier auch gelehrt. Die Sitzreihen für die Studierenden gehen steil nach oben. Unter ihnen ist Platz für die Professorinnen und Professoren und ihre Patienten, für Fallbeispiele. Dieses Szenario hat sich in den vergangenen Jahrzehnten nicht verändert.

Die meisten Münchnerinnen und Münchner kennen das Haus aber wohl nur von außen. Hier kommen keine Kinder zur Welt, wie in der nahen Portalklinik an der Ziemssenstraße, hier wird das menschliche Innenleben behandelt, seine Psyche, sein Verhalten, seine Angst, seine Sucht. Wer hier als Besucher rein möchte, muss sich an der Pforte anmelden.

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Rüther beschäftigt sich mit den Süchten. Seit mehr als 20 Jahren arbeitet der Mediziner, der meist im weißen Kittel und mit Krawatte anzutreffen ist, nun schon in der Nußbaumstraße. Nicht aus Mangel an anderen Möglichkeiten, sondern mit einem klaren Bewusstsein für den Ort. Morgens um 8.30 Uhr findet in der Bibliothek die tägliche Konferenz mit den Klinikdirektoren statt. Aktuell ist das Peter Falkai. In deckenhohen abschließbaren Regalschränken stehen dort Bücher hinter Glas, die heute kaum jemand mehr in die Hand nimmt. Vielleicht, weil ihr Inhalt überholt ist oder mit ein paar Klicks aus dem Internet gezogen werden kann. In der Bibliothek sitzt man an einem Tisch, wie er dem Machthaber im Kreml gefallen könnte. Die knarzenden Holzstühle sind großteils noch die alten aus den Anfangsjahren. Über einen großen Bildschirm können Kolleginnen und Kollegen auch von draußen teilnehmen, wie mittlerweile wohl fast überall seit Beginn der Pandemie. Auch sonst hat sich hier einiges der Zeit angepasst.

Auf manchen Stationen sind Männer und Frauen nicht mehr strikt getrennt untergebracht. Man habe realisiert, dass die Anwesenheit des jeweils anderen Geschlechts den Patienten guttue, erzählt Rüther. Sie schlafen auch nicht mehr wie zu Alzheimers Tagen in großen Sälen. Berghüttenfeeling, Bett an Bett, das gibt es nicht mehr, dafür aber hilfreiche Chemie. Medikamente also, mit denen etwa Depressionen oder Psychosen gut behandelbar seien, sagt Rüther. Er selbst ist für Privatpatienten zuständig und leitet die Tabakambulanz.

Auf Pappaufstellern begegnet man Ärzten, die hier einst arbeiteten: Klinikleiter Emil Kraepelin, Bernhard von Gudden und Alois Alzheimer. (Foto: Stephan Rumpf/Stephan Rumpf)

Die steht offen für alle, die vom Rauchen ablassen wollen, egal ob alt, jung, arm oder reich. Zu Rüther und seinem Team kommen Menschen aus allen Gesellschaftsschichten. Ihre einzige Voraussetzung: genug Motivation. Rüther ist überzeugt von seiner Methode. Es gehe ganz einfach, wenn sich die Leute ein bisschen bemühen, sagt er. Und weiß, dass das so nicht ganz richtig ist. Denn viele brauchen mehrere Anläufe. "Schon nach zehn bis 15 Tagen aber merkt man eine Veränderung." Dass sie überhaupt mit dem Rauchen angefangen haben, schiebt er auf die leichte Verfügbarkeit von Zigaretten, und in diesem Punkt wird Rüther leidenschaftlich. Er kann herzhaft über die "böse" Tabakindustrie schimpfen. Und er regt sich ebenso vehement über die Lobbyisten auf, die auch ihn verfolgen, gerade weil er so klar ist, in dem, was er sagt.

Rüther hält Vorträge und ist gefragter Experte in Regierungskreisen. "Ich bin froh über jeden, der erstmal von der Tabakzigarette weg ist", sagt er. "Weil Tabak wirklich Gift ist und die Leute umbringt. Jeder Raucher verliert ungefähr zehn Jahre Lebenszeit. Das muss nicht sein." Auch zum geplanten Cannabis-Gesetz hat Rüther eine Meinung, wenn auch nicht ganz so festgelegt. Immerhin: Er gratuliert der Bundesregierung zur deren Vorstoß, den Cannabis-Besitz und -Konsum zu entkriminalisieren. Rüther ist überzeugt, dass es überhaupt nichts nütze, den Menschen Drogen zu verbieten und sie ins Gefängnis zu stecken. "Das bringt bei Heroin nichts und auch bei keiner anderen Droge."

Richard Wagner, der Zwerg: Rüther hat die Statue aus Bayreuth, wo er so oft wie möglich die Festspiele besucht. (Foto: Stephan Rumpf)

Das Wort "Sucht" nimmt Rüther auch für sich selbst in den Mund. Die Menschen vom Rauchen abzubringen, das sei seine Sucht. Er sagt das mit ernster Stimme, es meint es wohl tatsächlich so. Außerdem liebe er die Musik von Richard Wagner. Auch eine Sucht. Wann immer möglich fährt er im Sommer dorthin, wo während der Festspiele der Geist des Komponisten noch zu spüren sei, nach Bayreuth also. Und alle paar Wochen müsse er in München in die Oper gehen, sie gehört zu seinem Leben.

In Rüthers Zimmer steht eine goldene Statue von Richard Wagner, so groß wie ein Gartenzwerg. Eine Erinnerung an die oberfränkische Stadt und ihren großen, wenn auch nicht unumstrittenen Sohn. Wagner war ein Antisemit, sagt Rüther, aber er bewundere dennoch dessen Musik. Mit diesem Widerspruch leben viele Wagnerianer. Der Suchtmediziner Rüther genießt diese Unvernunft, so wie die zwei Löffel Zucker, die er in seinen Espresso schaufelt.

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