Theater:Am Webstuhl des Lebens

Lesezeit: 3 min

Verwobene Geschichten: Jelena Kuljić in "Fäden". (Foto: Jubal Battisti)

Die Tanz-Performance "Fäden" will anregen, über die vergehende Zeit nachzudenken. Der Abend ist Ergebnis einer Kooperation der Münchner Kammerspiele und des Berliner Dance-On-Ensembles.

Von Sabine Leucht, München

Es ist so tragisch wie passend, dass die Premiere von "Fäden" nun zum zweiten Mal auf der Kippe steht. Ursprünglich hätte die Uraufführung schon im Frühjahr beim Münchner Festival Dance stattfinden sollen. Nun steht sie für Donnerstag auf dem Programm, bei 2G Plus, reduzierten Zuschauerzahlen und auch nur dann, wenn die Inzidenz unter der 1000er-Marke bleibt. "Das ist nervenaufreibend und herzzerreißend, aber wir leben nun mal in dieser Zeit", schreibt Ivana Müller auf die Last-Minute-Frage, wie es ihr damit gehe. Diese ganz besondere Zeit hat sich dem Abend bereits eingeschrieben, der wie das Reenactment von Lucida Childs' "Works in Silence" im Rahmen des von der Kulturstiftung des Bundes geförderten Doppelpass-Kooperations-Projekts "Scores of Change" zwischen den Münchner Kammerspielen, dem Berliner Dance On Ensemble und dem Kunstzentrum Stuk in Leuwen entstanden ist.

Als die aus Kroatien stammende Performancekünstlerin und Choreografin 2018 für das gemischte Ensemble angefragt wurde, war die Rede von einem Abend zum Thema Alter, was sich aus der Tatsache ergab, dass Dance On - auf Deutsch: "Weitertanzen" - Profis vereint, die andere Kompanien bereits aussortiert haben. Im Tanz ist das schon ab Ü40, im klassischen Ballett sogar schon weit früher der Fall. Doch schon damals interessierte Müller das Altern weniger als individueller Prozess mit seinen vorwiegend negativen Konnotationen. Viel lieber wollte sie mit Gedanken und Bildern der Reifung und Verwandlung arbeiten. "Und das meine ich sowohl im sozialpolitischen wie im biologischen Kontext." Müller, die in ihren Performances die Konventionen des Erzählens mal radikal dekonstruiert und mal mit sanfter Ironie zerfieselt, hatte sich ursprünglich an Fragen orientiert wie: "Wie ist es, als Mann oder Frau zu altern, als Tänzer oder Schauspieler, am Ort der eigenen Geburt oder als Zuwanderer, öffentlich oder privat, einsam oder in Gesellschaft?"

Im Lockdown wurden größere philosophische Fragen drängend

Doch schon bei Probenbeginn im Februar 2021 war die Zeit- und Selbstwahrnehmung lockdownbedingt eine andere - und der Fokus der Unternehmung verschob sich in Richtung der größeren philosophischen Fragen. Dennoch gibt es noch immer persönlich und biografisch grundierte Aussagen in dem für eine Tanzperformance sehr umfangreichen Text. Nicht auszuschließen, dass man bei der Lektüre einiger besonders heiter-versponnener Passagen dieses "ongoing poem" denkt, dass die künstlerische Beschäftigung mit den eigenen Wachstumsprozessen, Versäumnissen und geheimen Wünschen während dieser Zeit auch semi-therapeutische Funktionen erfüllt hat.

Lingua franca im Stück ist Englisch - laut Müller "ein fantastisches Euro-Englisch, das uns einen interessanten Raum für Experimente eröffnete. Jone San Martin hat außerdem aus allen Sprachen, die sie spricht, ein Kunstkauderwelsch entwickelt, mit dem wir mysteriöserweise alle etwas anfangen konnten."

Sieht man Sätze wie "hasieran, edo obe said, Eigentlich Ich ne me souviens pas vraiment de que hubiera un inizio" auf dem Papier, versteht man nur Bahnhof. Doch möglich, dass in dem, was Ivana Müller als choreografische Arbeit beschreibt, "in der Bewegungen, Texte, Stimmen, Gesten, Blicke und Geschichten gemeinsam tanzen", auch diese rätselhafte Anhäufung von Vokabeln an die richtige Stelle fällt.

"Wir arbeiten zusammen und un-diszipliniert"

Die international arbeitende Künstlerin, die im Juli 2022 auch mit ihrer Installation "Notes" an den Kammerspielen gastieren soll, überraschte in der Vergangenheit immer wieder durch eine Kür des Weglassens. In "Working Titles" von 2010 sprachen die Akteure nicht, sondern trugen nur Puppen über die Bühne. In "While We Were Holding it Together", mit dem Müller 2007 den Preis des Festivals Impulse gewann, verzichtete sie ganz auf Bewegung. So weit wird es diesmal nicht kommen, aber wer die Profis des Dance-On-Ensembles in den Online-Gastspielen bei Dance erlebt hat - die ehemalige Forsythe-Tänzerin Jone San Martin im Duett mit Ty Boomershine (dem künstlerischen Leiter der Truppe) in Rabih Mroués "Elephant" etwa, oder auch Omagbitse Omagbemi im hochpräzisen, auf Gehbewegungen reduzierten "Works in Silence" -, wird möglicherweise enttäuscht sein zu erfahren, dass Tanz im traditionellen Sinne in "Fäden" nicht vorkommen wird - und laut Müller auch "keine Musik außer jener, die die Bewegungen und Stimmen der Performer kreieren". Das sind außer den Genannten die Tänzer Javier Arozena und Emma Lewis sowie die Kammerspiel-Akteure Walter Hess, Jelena Kuljić, Anna Gesa-Raija Lappe und André Benndorff.

Ivana Müller, die hier erstmals nicht ihr eigenes Ensemble inszeniert, hatte bereits für die ersten Online-Proben das Motto ausgegeben: "Wir arbeiten zusammen und un-diszipliniert" - sprich: Wir unterscheiden nicht zwischen dem, was Schauspieler und Tänzer tun. Und dieses Tun ist in vielerlei Weise an die titelgebenden "Fäden" gebunden: von der "sich in Fragen und Geschichten ver- und entwirrenden Form der Narration" bis zu den sehr handfesten Woll-Fäden, die in wechselnden Bildern (Bühne: Alix Boillot) auf- und abgerollt, miteinander verwoben und wieder getrennt werden. Ivana Müller mag die taktile Qualität dieses Materials und das Alltägliche dieses Tuns, das aber auch an antike Mythen erinnert: an die Lebensfäden spinnenden Parzen, den Ariadnefaden oder die am Webstuhl ihr Schicksal auf Abstand haltende Penelope. "Mit den Händen zu arbeiten, braucht Hingabe, Können und Zeit. Und das ist es, wozu der Abend animieren will: sich Zeit zu nehmen, um über die vergehende Zeit nachzudenken."

"Fäden", Premiere: Donnerstag, 25. November, 20 Uhr, Therese-Giehse-Halle, Münchner Kammerspiele. Lucinda Childs' "Works in Silence" gastiert am 18. und 19. Dezember ebenda

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: